Das Vorkommnis

Julia Schoch (* 1974) wurde im Militärkrankenhaus von Bad Saarow geboren und wuchs mit ihrer Schwester in Eggesin, der berüchtigten Kasernenstadt in Nordost-Mecklenburg, auf, wo ihr Vater als Offizier stationiert war und ihre Mutter als Buchhändlerin arbeitete. 1986 zog die Familie nach Potsdam. Julia Schoch besuchte zunächst die Kinder- und Jugendsportschule; als Steuerfrau im Vierer mit Steuerfrau wurde sie DDR-Meisterin. Später wechselte sie die Schule, machte Abitur und studierte Germanistik und Romanistik in Potsdam, Montpellier und Bukarest. Seit 2003 ist sie freiberufliche Autorin.

„Das Vorkommnis“ ist der erste Teil einer autobiographischen Trilogie.


„An dem Tag, einem Dienstag im Dezember, war ich zu Gast im Kulturhaus einer norddeutschen Stadt und las aus meinem neuen Roman vor. Nach der Veranstaltung trat eine Frau zu mir an den Tisch, an dem ich noch sitzen geblieben war, um das eine oder andere Buch zu signieren. Sie schob mir ihr Exemplar hin. Während ich mich darüberbeugte und meinen Namen hinzuschreiben, sagte sie:
Wir haben übrigens den selben Vater.“ [7]

„Jahrelang habe ich über das Vorkommnis nachgedacht.“ [10] Ich wollte darüber schreiben, aber konnte mich nicht mehr richtig erinnern. Dabei hatte ich immer untergründig gewusst, dass es diese Frau gab. Meine Mutter hatte bei meinem Vater einen Zettel gefunden, der die Existenz dieser Tochter belegte. Aber damals konnte ich das nicht aufnehmen. Anderes war wichtiger. Meine Eltern ließen sich scheiden und ich war verliebt.

Jede Familie hat ihre Form, meine die eines Quadrats mit weit voneinander entfernten Ecken. Mit der Frau wandelte sich diese Form in ein struppiges Gewächs.

Ich ging mit meiner Mutter und meinen Kindern für ein paar Monate nach Ohio. An der Universität sollte ich ein Seminar über die deutsch-deutsche Gegenwartsliteratur geben. Ich war froh, so weit weg zu sein, doch man kann von den Dingen dennoch eingeholt werden. 

Die Frau hatte mir noch vor der Abreise geschrieben. Antworten konnte ich ihr nicht. Irgendwann dachte ich weniger über die Frau nach sondern mehr über ihre Mutter, die die Geliebte meines Vaters war. Auch das Leben meiner Mutter kam mir vor Augen: Ihr Studium, die Geburt ihrer beiden Töchter, ihre Arbeit als Lehrerin, die immer wieder anderen Wohnorte, weil mein Vater als Soldat versetzt wurde, zuletzt in einem kleinen Ort im Nordosten, wo es in den Wäldern Blaubeeren gab. Mein Vater war oft nicht da.

Ich begann, über die Geschichte meiner Familie zu schreiben und merkte bald: 

„Das hier ist nicht die Geschichte meiner Familie.
Die Geschichte meiner Familie gibt es nicht.
Da ist nur die Geschichte einer Verwirrung.“ [89]

Nachdem ich auf die Frau, meine plötzlich aufgetauchte Schwester, gestoßen war, überlegte ich, was noch im Verborgenen liegen könnte, auch in der Beziehung zu meinem Mann. Ich begann, ihm zu misstrauen, überlegte, einen Privatdetektiv zu beauftragen, meine Verwirrung verästelte sich immer mehr.

Endlich entschloss ich ich mich nach Jahren der Frau zu schreiben. Wir trafen uns in der norddeutschen Stadt, in der wir uns das erste Mal begegnet waren. „Als wir uns trennten, versprachen wir uns, in Verbindung zu bleiben. Gleichzeitig spürte ich, dass mit diesem Treffen etwas abgeschlossen war für mich.“ [190]


selbst lesen: Julia Schoch, Das Vorkommnis. Roman, 2022.

mehr von Julias Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts, 2023.


 

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