Das Novemberpogrom in Perleberg
Bis sich 1992 vier Schülerinnen auch mit der Geschichte der Juden in Perleberg beschäftigten, waren die Ereignisse im öffentlichen Bewusstsein weitgehend in den Hintergrund getreten. Es gab nur noch wenige Zeitzeugen und andere Quellen standen nicht zur Verfügung. 2008 nahm eine andere Schülergruppe die Erkenntnisse von 1992 auf und beschrieb die Schicksale von vier jüdischen Familien, die 1938 in Perleberg lebten. Jetzt wurde begonnen, weitere Quellen auszuwerten und nach und nach kann die Frage genauer beantwortet werden: Was geschah im November 1938 mit den Perleberger Juden?
20. Januar 1948 Perleberg
Wilhelm Hartmann wird zur Kriminalpolizei-Dienststelle Perleberg vorgeladen und zu seiner Person und den Ereignissen im November 1938 befragt. Er erklärt:
„Am 1.12.1932 wurde ich Mitglied der NSDAP, gleichzeitig trat ich in die Reihen der SA-Reserve ein … Ich erklärte mich mit den Idealen, welche die NSDAP vertrat, einverstanden. Während meines Eintritts in die NSDAP war ich arbeitslos und hoffte somit, Arbeit zu bekommen. Im Jahre 1938 war ich in Perleberg als Angestellter auf dem Landratsamt beschäftigt.
Am Tage der Judenverfolgung (Kristallnacht) kam der mir bekannte Willi Bernhard (…) zu mir und sagte: Du hast dich heute nachmittag (…) auf dem grossen Markt in Perleberg einzufinden. Das Erscheinen hat in Zivil zu erfolgen.
Ich ging zur festgesetzten Zeit in Zivil nach dem Grossen Markt in Perleberg. Dort befand sich bereits eine grössere Menschenmenge. Der mir bekannte Ortsgruppeleiter der NSDAP [Helmut] Schmelzer hielt eine wüste Hetzrede gegen die Juden. Die Menge war durch die Rede erregt. Ich war Augenzeuge, wie einige Kundgebungsteilnehmer in das Eckhaus am Grossen Markt … stürmten … Von zwei jüngeren Menschen … wurde die Tür [der Wohnung von Alwine Sternberg] mit einem Beil gewaltsam geöffnet … An einer Zerstörung der Wohnungseinrichtung habe ich nicht teilgenommen.“
Auf die Frage nach den weiteren Ausschreitungen sagt er: „Von den Vorfällen … ist mir nichts bekannt, eine Beteiligung meinerseits fand nicht statt.“
7. November 1938 Paris
Am Morgen betritt ein junger Mann die deutsche Botschaft in Paris. Es ist der 17-jährige Jude Herschel Grynszpan. Zuvor hatte er in einem Waffengeschäft für 235 Franc einen Revolver gekauft.
In der Botschaft verlangt er, einen Botschaftssekretär zu sprechen. Er wird an Ernst vom Rath verwiesen und man lässt ihn ohne Anmeldeformalitäten in dessen Amtszimmer treten. Sobald beide allein sind, schießt Grynszpan mit seiner Waffe fünfmal auf Rath. Dabei beschimpft er ihn als „dreckiger Deutscher“. Zwei Kugeln treffen und verletzen den Botschaftssekretär lebensgefährlich. Rath kann Grynszpan noch einen Faustschlag verpassen und verlässt um Hilfe rufend sein Zimmer.
Grynszpan lässt sich ohne Widerstand am Ort der Tat verhaften. Da er zum Tatzeitpunkt noch minderjährig ist, wird er in das Jugendgefängnis überstellt.
Am Spätnachmittag gibt es in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt die ersten Übergriffe gegen Juden, ihre Wohnungen, Geschäfte, Gemeindehäuser und Synagogen. Am Abend werden die Synagoge und andere jüdische Einrichtungen in Kassel, in derselben Nacht auch in umliegenden Orten verwüstet.
Um 21.25 Uhr erhalten alle Tageszeitungen einen Rundruf des Deutschen Nachrichtenbüros mit der Aufforderung, „in größter Form über das Attentat auf den Legationssekretär in der deutschen Botschaft in Paris [zu] berichten. Die Nachricht muss die erste Seite voll beherrschen.“
27. bis 29. Oktober 1938 Deutsches Reich
Das Reichssicherheitshauptamt schickt ein Rundschreiben an alle Stapo-Stellen im Land mit der Anweisung, „alle polnischen Juden, die im Besitz gültiger Pässe sind, sofort … in Abschiebehaft zu nehmen und unverzüglich nach der polnischen Grenze im Sammeltransport abzuschieben“.
An den beiden folgenden Tagen wird die Verhaftungsaktion im gesamten Reich durchgeführt. Rund 17.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit werden in ihren Wohnungen festgenommen und zunächst in Gefängnissen und Sammellagern interniert.
In bewachten Sonderzügen transportiert die Reichsbahn sie anschließend an die deutsch-polnische Grenze. Polen verweigerte wiederum die Einreise, so dass viele Menschen monatelang im Grenzgebiet in Auffanglagern ausharren mussten. Diese als „Polenaktion“ bezeichnete Zwangsausweisung war die erste Massendeportation von Juden aus dem Deutschen Reich.
Zu den Ausgewiesenen zählte die Familie Grynszpan aus Hannover, die ihrem Sohn Herschel in Paris eine Nachricht schickte.
9. November Perleberg
Die Prignitzer Nachrichten berichten:
„In einer Feierstunde zum 9. Nov.[ember] fanden sich im Hotel Stadt Berlin die Partei- und Volksgenossen ein. Der festlich geschmückte Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Im Mittelpunkt der Feierstunde stand die Ansprache des Ortsgruppenleiters Pg. Schmelzer, der rückschauend ein Bild von der Entwicklung der Bewegung und der Arbeit des Führers gab. SA-Sturmhauptführer Bertram verlas die Namen der 16 Gefallenen von der Feldherrenhalle. Die Feier wurde umrahmt von den Klängen der HJ-Bannkapelle und Gedichtvorträgen.
Die Formationen traten nach der Feierstunde zum Schweigemarsch nach dem Horst-Wessel-Gedenkstein am Hindenburg-Platz [heute Friedrich-Engels-Platz] an. Ortsgruppenleiter Pg. Schmelzer legte einen Kranz nieder, und Sturmhauptführer Bertram gedachte des großen Freiheitskämpfers Hort Wessel. Mit Fackeln und Musik ging es dann zum Großen Markt zurück, wo mit einem Sieg-Heil auf den Führer die Feier ihren Ausklang fand.“
9. November München
Es ist 21.00 Uhr. Adolf Hitler und ein Teil der Nazi-Führungsspitze feiern in München den Jahrestag des missglückten Hitler-Putsches 1923, den Marsch auf die Feldherrenhalle.. Ein Bote teilt Hitler mit, dass Ernst vom Rath seinen Schussverletzungen erlegen sei.
Da vom Rath bereits nachmittags um 17.30 Uhr gestorben ist, ist unklar, ob Hitler davon tatsächlich erst jetzt erfährt. Gesichert ist, dass er nach einem kurzen Gespräch mit Joseph Goebbels den Raum verlässt, ohne seine übliche Jahrestagsansprache zu halten.
Anderthalb Stunden später, um 22.30 Uhr werden nach einer antisemitischen Hetzrede von Goebbels die ersten Anweisungen an Partei- und SA-Stellen herausgegeben. Darin wird zur Zerstörung jüdischer Synagogen und Geschäfte aufgerufen. Der Sicherheitsdienst und die Geheime Staatspolizei bekommen den Befehl, sich herauszuhalten. Allerdings sollen Plünderungen verhindert, Nachbargebäude von Synagogen vor Bränden geschützt und Ausländer nicht belästigt werden.
Noch in der Nacht werden im gesamten Deutschen Reich gewalttätige Übergriffe auf jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger und deren Geschäfte und Synagogen durchgeführt.
In dieser Nacht und unmittelbar in Folge des Pogroms werden mehr als 1.300 Menschen ermordet, über 30.000 Jüdinnen und Juden verhaftet, 1.406 Gottes- und Gemeindehäuser zerstört und mehrere Tausend Geschäfte verwüstet. An der Aktion beteiligen sich SS- und SA-Männer, NSDAP-Mitglieder und andere Teile der deutschen Bevölkerung.
10. November Perleberg
In den Perleberger Betrieben, im Landratsamt und wohl auch in den höheren Schulen werden am Vormittag die Menschen aufgefordert, an einer Kundgebung auf dem Großen Markt teilzunehmen. Ein Arbeiter erinnert sich: „Eines Tages erklärte uns der Betriebsobmann, dass wir nach dem Frühstück zum Grossen Markt marschieren sollten. Zusammen mit anderen Betrieben marschierten wir dort auf.“
10. November Perleberg, Großer Markt
Die Kundgebung beginnt am frühen Nachmittag. Auf dem Großen Markt hältder Ortsgruppenleiter der NSDAP Helmut Schmelzer eine Ansprache, die von vielen Zeugen als „wüste Hetzrede gegen die Juden“ bezeichnet wird.
Der jüdische Kaufmann Markus Lang steht während der Rede vor der Apotheke auf dem Großen Markt. Als er erkannt wird, wirder von SA- und SS-Leute in Zivil geschlagen und flieht durch die Marktgasse.
Anschließend, noch während der Rede, stürmen die gleichen SA- und SS-Leute die Wohnung von Malwine Sternberg, Großer Markt 11. Dort reißen sie die Fenster auf, werfen die Gardinen, Bücher und andere Gegenstände aus dem Fenster, schleppen die Betten ans Fenster, schlitzen sie auf, sodass die Federn wie ein Schneetreiben auf den Markt fielen.
An dieser Aktion nehmen der SS-Sturmführer Franz Loleit und der SA-Truppführer Wilhelm Hartmann teil, wahrscheinlich auch die SA-Angehörigen Alwin Schmidt (damals Fahnenträger der SA), Max Thinius (damals politischer Leiter und SA-Truppführer) und Paul Holz (damals Amtskassenwalter der NSDAP und SS-Mann) teil.
10. November Perleberg, Parchimer Straße
Nachdem die Wohnung von Alwine Sternberg demoliert ist, stürmt die Horde zum Haus Parchimer Straße 17. Dort hatte Magarete Franke mit ihrer Mutter Sophie Sternberg gewohnt. Am 10. November war aber Magarete sehr wahrscheinlich bereits mit Bernhard Levi verheiratet und wohnte in Berlin.
Ob sie und vielleicht auch ihr Ehemann an diesem Tag in Perleberg waren, ist offen. Bekannt ist aber, dass Bernhard Levi am 16. November inhaftiert wurde und bis 19. Dezember 1938 im Konzentrationslager Dachau war.
Wie dem auch sei, auch die Wohnung von der Franke-Geschwister wurde demoliert und Inventar auf die Straße geworfen.
10. November Perleberg, Hohes Ende
Markus Lang hat die Kundgebung am dem Großen Markt verfolgt, wurde angegriffen und floh.
Auf der Flucht wird er von mehreren Männer und Jugendlichen verfolgt und durch die Judenstraße, (heute Parchimer Straße) zu seiner Wohnung getrieben. Vor dem Haus stürzt er und flieht dann zunächst in seine Wohnung Hohes Ende 4.
In dem Haus mit Seitenflügel und Quergebäude, das Markus Lang gehört, gibt es insgesamt neun Wohnungen, einschließlich der von Markus Lang, sowie zwei Läden. In dem einen hatte Lang ein Geschäft für Damentextilien und Kurzwaren.
Die Verfolger dringen in den Laden ein und werfen die Sachen auf die Straße. Mit Äxten ausgerüstet geht es dann zur Wohnung. Wäsche wird aus der Wohnung geworfen und liegt dann im angrenzenden Garten und hängt in den Bäumen. Mit den Äxten zerstören die Eindringlinge das Inventar. Entsetzte Schreie sind von Berta Lang, der Ehefrau von Markus, zu hören.
Beide werden dann in den Hof geführt. Markus Lang blutet stark am Kopf. Im Hof werden die Langs und aufgefordert, den Hitlergruß zu entbieten. Markus Lang tut dies angstvoll, seine Frau nicht. Dann wird Markus Lang von den Jugendlichen zur Stepnitzbrücke gebracht und gezwungen, in die Stepenitz zu springen.
Als Markus Lang versucht, am Ufer wieder aus dem Wasser zu kommen, treten ihm einige aus der Menge auf die Hände. Schließlich kommt ein Lehrer der Volksschule und hilft ihm heraus. Markus Lang flüchtet wieder in seine Wohnung.
10. November Perleberg, Flugplatz
Karl Hinneburg und Erich Bastigkeit arbeiteten auf dem Flugplatz. Es ist davon auszugehen, dass sie an der Kundgebung auf dem Großen Markt teilgenommen haben und dann wieder an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt sind. In der Kantine trinken sie nach Feierabend ab 16.00 Uhr „verschiedene Schnäpse“. Gegen 18.00 Uhr fahren sie mit dem Fahrrad nach Hause und kommen bis zum Haus von Markus Lang, in dem auch Karl Hinneburg wohnt.
10. November Perleberg, Hohes Ende
Als Martin Sengebusch, der auch in diesem Haus wohnt, von der Arbeit kommt, sind immer noch viele Menschen auf dem Hof und vor dem Haus Hohes Ende 4. Jugendliche, unter ihnen Minna Thiel, verhöhnen Markus Lang.
Etwas später kommen Karl Hinneburg und Erich Bastigkeit dazu und fragen die Umstehende, ob die Familie Lang ihre „Abreibung weg“ habe. Als die Menge dies bejaht, fordert Karl Hinneburg die Menschen auf, sich der Familie Sengebusch zuzuwenden: „Denn nehmt euch mal die Judenfreunde vor, die sind auch nicht besser als die Juden selbst.“
Ob jemand dieser Aufforderung gefolgt ist, ist nicht überliefert. Nur wenige Menschen, die das Pogrom erlebten, versuchten zu widersprechen oder den Betroffenen zu helfen. Vorsichtiger Protest Einzelner führte eher dazu, dass auch sie Ziel von Pöbeleien wurden oder die Menschenmenge sich sogar angestachelt fühlte. Die übliche Reaktion derer, die das Pogrom ablehnten war, sie gingen weg.
Karl Hinneburg und Erich Bastigkeit sind inzwischen hungrig geworden und essen in die Wohnung von Hinneburg Abendbrot. Kaum sind sie gestärkt, gehen sie in die Wohnung von Markus Lang und sehen sich die Verwüstungen an. Bastigkeit nimmt dabei eine Figur, die Mose dargestellt haben soll, und wirft sie später in die Stepenitz.
Zwischen 20.00 und 21.00 Uhr eskaliert die Situation erneut. Als der Hausbewohner Fritz Schnuppe von der Arbeit kommt, begegnet der immer noch nicht zerstreuten Menschenmenge. Er versucht, den Tordurchgang zu schließen, was die Menge jedoch verhindert. Auch er wird als „Judenfreund“ beschimpft und die Fenster seiner Wohnung eingeworfen.
Markus Lang, der sich im Haus versteckt hat, wird gesucht. Als sein Versteck auf dem Dachboden gefunden wird, stürmen Karl Hinneberg und eine Gruppe Jugendlicher nach oben.
Gegen 22.00 Uhr erscheinen schließlich zwei Polizisten in Uniform. Sie kommen mit dem Haus Wilhelm Leibrandt, seit 1930 Mitglied der NSDAP und nehmen Markus und Berta Lang in „Schutzhaft“.
10. November Perleberg, An der Mauer
Hier, im Haus Nummer 7, wohnt Adolf Lewandowski zusammen mit seiner Ehefrau und zwei Töchtern sowie deren Ehemännern in unterschiedlichen Wohnungen. Nach der Rassenlehre der Nationalsozialisten ist Adolf Lewandowski Jude und seine Töchter „Halbjüdinnen, die anderen Einwohner „arisch“.
Dennoch wird die Haustür wurde mit der Axt eingeschlagen und in allen Wohnungen radaliert. Die Fensterscheiben werden zerstört, die Möbeleinrichtung zerschlagen, die Betten aufgeschnitten und mit Möbeln zum Fenster hinausgeworfen, das Geschirr in der genutzten Küche zerschlagen.
Wilhelm Hartmann führt diese Aktion, an der sonst Jugendliche beteiligt waren an. Später behauptet er: „Von den Vorfällen … ist mir nichts bekannt, eine Beteiligung meinerseits fand nicht statt.“ Die damals Jugendlichen konnten nicht mehr befragt werden. Sie hatten den Krieg nicht überlebt.
Während der Zerstörungen sind die Bewohner nicht anwesend und entgehen so möglichen Misshandlungen.
England Ende 1938
Malwine Sternberg, geboren 4. Februar 1864, flieht unmittelbar nach dem Pogrom nach England, wohin schon ihre Schwester gegangen war. Wahrscheinlich hatte sie ihre Auswanderung schon zuvor vorbereitet. Sie überlebte auf diese Weise die Zeit des Nationalsozialismus.
Das Haus, in dem sie wohnte und ein weiteres Grundstück hatte Isidor Sternberg, der 1898 gestorben war, an seine fünf Kinder Sigmund, Bertha, Malvine, Sally und Else vererbt. Beide Grundstückewurden durch Verträge vom 31. Dezember 1938 für insgesamt 43.123,70 Reichsmark an „arische“ Käufer verkauft, das Haus Großer Markt 11 an den Fahrradhändler Henry Quaas. Die Eintragung in das Grundbuch zog sich aber noch bis 1942 hin.
Der Vermögensanteil von Malwine Sternberg in Höhe von 8.624,74 Reichsmark wurde als „feindliches Vermögen“ zugunsten des Deutsches Reichs eingezogen.
Deportiert und ermordet
Berta Lang, geboren am 26. August 1888, und Markus Lang, geboren am 6. August 1877 wohnen auch nach dem Pogrom weiter in Perleberg. Sie werden am 13. April 1942 aus Perleberg über den Bahnhof Moabit in das Sammellager der Berliner Synagoge Levetzowstraße gebracht. Am 14. April 1942 werden sie mit dem „XIII. Transport“ aus Berlin nach Warschau deportiert. Über ihre weiteres Ergehen ist nichts bekannt.
Margarete Levi, geborene Franke, geboren am 13. März 1899, wohnt zuletzt in Berlin, Elsässer Straße 9 [heute Torstraße]. Sie wird mit ihrem Ehemann Bernhard Levi deportiert. Vor der Deportation werden die Juden im Sammellager in der Großen Hamburger Strasse in Berlin festgehalten, wo sie eine Erklärung unterschreiben müssen, in der sie ihr gesamtes Eigentum dem Staat überschrieben. Am Tag der Deportation, am 19. Februar 1943, werden die Juden zum Güterbahnhof Putlitzstraße in Berlin-Moabit gebracht und in einen Zug aus Güterwaggons gezwungen. Diese wurden verschlossen. Es war die 29. Deportation aus Berlin in die Ghettos und Vernichtungsstätten in Osteuropa. Der Zug mit 1.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern aus Berlin kommt einen Tag später in Auschwitz an. Der Zug stoppte außerhalb des Lagerkomplexes und die Deportierten werden durch SS-Personal selektiert. 140 Männer und 85 Frauen werden als „arbeitsfähig“ bestimmt. Die restlichen 775 Juden, zu denen auch Margarete und Bernhard Levi gehörten, werden sofort in die Gaskammern von Birkenau geschickt und ermordet.
Die Mutter von Margarete Levi, Sophie Franke, geboren am 12. Oktober 1866, zieht nach dem Pogrom auch nach Berlin. Sie wird schon am 24. September 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie im Mai 1944 stirbt.
Heute liegt vor dem Haus An der Mauer 7 ein Stolperstein mit der Aufschrift „Adolf Lewandowski J[ahr]g[ang] 1865 deportiert ermordet“. Was die Quelle für diese Angaben ist, ist gegenwärtig nicht zu nicht ermitteln. Adolf Lewandowski taucht auch nicht in den penibel geführten Deportationslisten auf. Insofern bleibt sein Ergehen zunächst im Dunkeln. Nur von einer weiteren Tochter, Erna Oppenheim, geboren am 23. Oktober 1899, wissen wir, dass sie nach Berlin gezogen ist und am 27. November 1941 nach Riga deportiert wurde und drei Tage später in Rumbula starb.
20. Februar 1948 Perleberg
Karl Hinneburg, Wilhelm Hartmann, Wilhelm Leibrandt und Erich Bastigkeit werden wegen „aktiver Teilnahme an der Judenaktion in Perleberg“ angezeigt und Hartmann am gleichen und Leibrandt und Bastigkeit am folgenden Tag verhaftet. Hinneburg, dem auch noch andere Vergehen zur Last gelegt werden, wurde bereits am 25. Mai 1947 festgenommen.
Die Ermittlungen sind bereits 1947 in Gang gekommen und werden zunächst von der Staatsanwaltschaft und ab 1948 von der Kriminalpolizei Perleberg geführt. Ermittelt wurde gegen insgesamt 15 Personen, von denen aber sechs gefallen oder gestorben waren und der Aufenthalt von fünf unbekannt war. Die Anklage in Perleberg richtet sich in Perleberg schließlich gegen die vier, die noch in der Stadt wohnten.
Alle vier wurden verurteilt.
24. Mai 1948 Brandenburg an der Havel
Exemplarisch sei das Urteil des Landgerichts Neuruppin, Zweigstelle Brandenburg an der Havel genannt:
„Der Angeklagte Hartmann wird wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit unter Einstufung als Belasteter … zu einer Zuchthausstrafe von 4 Jahren und zu folgenden Sühnemaßnahmen verurteilt: … Sein Vermögen wird als Beitrag zur Wiedergutmachung ganz eingezogen. … Er darf kein öffentliches Amt … bekleiden. Er verliert alle Rechtsansprüche auf eine aus öffentlichen Mitteln zahlbare Pension oder Zuwendung. Er verliert das aktive und passive Wahlrecht, das Recht, sich irgendwie politisch zu betätigen oder Mitglied einer politischen Partei zu sein. … Es ist ihm auf die Dauer von 5 Jahren nach seiner Freilassung untersagt, … anders als in gewöhnlicher Arbeit beschäftigt zu sein. Er unterliegt Wohnraum- und Aufenthaltsbeschränkungen. Er verliert … das Recht, ein Kraftfahrzeug zu halten. …“
„Da der Angeklagte … sich als überzeugter Anhänger der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, insbesondere ihrer Rassenlehre, offen bekannt hat, und durch die Tat eine gehässige Haltung gegenüber Gegnern der NSDAP eingenommen hat, war er als Verbrecher … einzustufen.“
Was bleibt offen?
Was wurde mit dem Eigentum der jüdischen Einwohner von Perleberg? Das Vermögen der Verurteilten wird als Beitrag zur Wiedergutmachung ganz eingezogen. Haben die Opfer oder ihre Nachkommen jemals eine Wiedergutmachung erhalten?
Es ist wohl davon auszugehen, dass dies nicht der Fall ist.
Das Vermögen von Malwine Sternberg wurde zugunsten des Deutsches Reichs eingezogen. Ob sie jemals davon etwas wiederbekommen hat, ist offen. Dass sie aus dem eingezogenen Vermögen der Täter eine Entschädigung bekam, scheint unwahrscheinlich.
Das Vermögen von Markus und Berta Lang wurde nach deren Deportation eingezogen. Der Ortsgruppeleiter der NSDAP Helmut Schmelzer, der mit seiner aufputschenden Rede den Auftakt für das Pogrom in Perleberg geliefert hatte, war zugleich Steueramtmann im Finanzamt Perleberg war, bringt die Verwertung in Gang. Am 24.6.1942 schreibt er: „Am 13. April 1942 ist der Jude Markus Israel Lang … in die Ostgebiete abgeschoben worden. Das ihm gehörige Grundstück Perleberg, Am hohen Ende 4 mit Seitenflügel und Quergebäude hat insgesamt 9 Wohnungen, einschließlich der Wohnung von Lang, sowie 2 Läden.“ „Ich empfehle das Grundstück recht bald zum Verkauf freizugeben.“
Mehrere Perleberger, darunter auch Wilhelm Leibrandt, der am Pogrom führend beteiligt war, wollen das Grundstück kaufen. Es wird aber nicht verkauft sondern am 15. November 1943 auf das Deutsche Reicht im Grundbuch eingetragen. Der Vorgang wird aber noch weiter betrieben, da noch Hypotheken auf dem Grundstück liegen. Die letzte Notiz stammt vom 1. November 1944.
Und auch die DDR führt den Vorgang fort. Noch immer verwaltet das Finanzamt Perleberg das Grundstück und sorgt sich um die Versteuerung der Hypothekenzinsen. Von der Sorge um den ursprünglichen Eigentümer ist in den Akten nichts zu finden.
Schluss
Was Wilhelm Hartmann 1948 erklärt, hätten wohl auch viele andere Perleberger zum Novembergpogrom nach dem Ende des Nationalsozialismus gesagt: „Von den Vorfällen … ist mir nichts bekannt, eine Beteiligung meinerseits fand nicht statt.“
Auf Anmerkungen und Quellenhinweise habe ich im vorstehenden Beitrag verzichtet. Ich kann sie aber gerne auf Anforderung übermitteln.
Bild: Bildarchiv Abraham Pisarek, National Archives and Records Administration, College Park, Source Record ID: Duker Dwork–OSS-731918