Lichtspiel

„Warum bin ich in diesem Auto? Ich sitze still. Wenn man sich nicht bewegt, kommt die Erinnerung manchmal zurück. Eins nach dem anderen. Der Fahrer hat mich abgeholt, hat mir die Tür aufgehalten, und die anderen haben mit offenen Mündern zugesehen … Denn eigentlich ist im Sanatorium Abendruh jeder Tag wie der andere.“ [11]

Jetzt fällt es mir wieder ein, ich bin auf dem Weg ins Fernsehstudio. Aber welche Sendung? Ich werde in die Maske geführt. Ein dicker Kerl umarmt mich zur Begrüßung. Wer ist das? Dann bin ich im Studio. Eine Livesendung. „Der Moderator … spricht über mich. Eine besondere Freude, sagt er …, dass Franz Wilzek bei ihm sei, sein lieber alter Freund! Und ich kenne ihn ja gar nicht.“ [19]

Er redet weiter, liest etwas von seinen Karten ab und schweigt. Hat er mich etwas gefragt? Ich erzähle aufs Gratewohl eine Anekdote. Es klappt und ich erzähle gleich noch eine. Sie lachen und so erzähle ich noch meine beste Geschichte, aber es fällt mir nicht mehr ein, wie sie weitergeht. Auch die nächste Frage verpasse ich.

Der Moderator liest von seiner Karte ab: „‚Der Franz Wilzek ist ja erst spät selbst Regisseur geworden. Vorher war er Assistent bei G.W. Papst.‘ … ‚G.W. Papst‘, erklärt er. ‚Einer der großen Regisseure. Ein Großmeister, eine große Legende, ich hab ihn ja noch gekannt, aber keiner hat ihn gekannt wie du!‘“ [23] „Hat er dir erzählt, warum er 1939 aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrt ist?“ Soll ich etwas sagen? Er fragt nach Papsts letzten Film. Ich: „Der wurde nie gedreht. Dass es diesen Film gibt, ist ein Irrtum, eine Lüge.“ Die Sendung wird vorzeitig beendet.

G.W. Papst liegt in Hollywood am Pool. Sein Englisch ist schlecht. Den Mann neben sich versteht er kaum. Aber er erzählt ihm seine nächste Filmidee. Stattdessen wird er genötigt, das furchtbare Drehbuch „A Modern Hero“ zu verfilmen. Es wird ein Misserfolg.

G.W. Papst liegt im Liegestuhl auf dem Schiff nach Europa. Er denkt daran, wie er sich bemühte, Leni Riefenstahl das Schauspielern beizubringen. Er denkt an die Filme, der er gedreht hat, an seinen großen Erfolg mit „Die freudlose Gasse “. Jetzt aber zerschlägt sich sein nächstes Filmprojekt in Frankreich.

G.W.Papst fährt nach Österreichisch, das jetzt „Ostmark“ heißt, um sich um seine Mutter zu kümmern. Der Krieg beginnt und er kann nicht wieder ausreisen. Er weiß, dass er als der „rote Papst“ gilt und im Nazi-Land gefährdet ist. Er wird gezwungen, zum Minister nach Berlin zu fahren. Seine Aufwartung bei Joseph Goebbels wird zum Gang nach Canossa. 

G.W.Papst kann wieder arbeiten. Die Mutter bekommt einen Platz im Sanatorium „Abendruh”. Papst dreht „Komödianten“. Papst assistiert Leni Riefenstahl; sie setzt als Statisten KZ-Häftlinge ein. Er ist erschüttert, als er davon erfährt, aber er macht mit. 

G.W. Papst macht mit, dreht eigene Filme, wird vom Regime eingespannt, kann aber arbeiten, auch im Krieg, zuletzt im weitgehend verschonten Prag. Im Wettlauf mit der herannahenden Front dreht er „Molander“, setzt, weil es an Statisten für eine Konzertszene fehlt, selbst KZ-Insassen ein. „Reglos saßen sie … Dürr waren sie, die Gesichter ausgemergelt, ein schwerer Geruch hing über ihnen, aber sie trugen ihre Kostüme“ [381].

G.W. Papst rechtfertigt sich gegenüber seinem Assistenten Franz Wilzek: „‚Niemandem‘, sagte er leise. ‚Keinem einzigen Menschen. Wird wegen uns etwas angetan.‘ … ‚Dieser ganze Wahnsinn, Franz, dieser teuflische Wahnsinn, gibt uns die Möglichkeit, einen großen Film zu machen. Ohne uns wäre alles genauso, niemand wäre gerettet, niemand besser dran. Aber es gäbe diesen Film nicht.‘“ [383. 384]

G.W. Papst und Franz Wilzek fliehen im Chaos des Kriegsendes aus Prag. Der Film geht auf der Flucht verloren.


selbst lesen: Daniel Kehlmann, Lichtspiel. Roman, 2023.


 

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