Bis heute gilt Afrika als der „vergessene Kontinent“, dabei ist es spätestens seit dem 19. Jahrhundert vor allem der umkämpfte Kontinent. Europäische Kolonialmächte haben hier tiefe Wunden hinterlassen. Der arabische Norden trägt seine Religion und Kultur in den Süden, oft mit Gewalt. China und der Westen konkurrieren um Bodenschätze und Einfluss.
Vergessen ist Afrika vor allem da, wo es nichts zu holen gibt, etwa auf Madagaskar. Hier haben die Vereinten Nationen die erste Hungersnot deklariert, die vom Klimawandel verursacht wurde. Hier beginnt die Reise, die Navid Kermani unternommen hat. Sie führt weiter über die Komoren, Mosambik, Tansania, Kenia und Äthiopien bis in den Sudan.
Am Ende seiner Reise, seines Buches frage ich mich: Warum gelingt es uns in Europa nicht, die Welt als ganze zu sehen? Warum grenzen wir uns so sehr ab von den Menschen in Afrika ab und warum sehen wir so wenig die Ressourcen, die dieser Kontinent hat, die uns allen nutzen würden, in Afrika und in Europa?
„In die andere Richtung jetzt“ heißt das Buch von Kermani. Das meint für mich, das ich aufgefordert werde, meinem Blick und meinem Handeln eine andere Richtung zu geben. Das beschreibt in dem Buch aber auch mein Verhalten, den Blick vor den Herausforderungen, vor denen Afrika und Europa gemeinsam stehen, zu verschließen, sobald ich damit einmal ungewollt in Berührung komme.
Madagaskar
Die ersten Einwohner Madagaskars kamen von weit her über den Indischen Ozean. Um 1400 unternahmen die Chinesen Expeditionen bis nach Ostafrika und um 1500 kamen die Europäer. „Was die europäischen Expeditionen einzigartig macht, sind nicht die Entfernungen, ist nicht die Neugierde, ist nicht die Kühnheit. Es ist das Ausmaß der Gewalt. … Afrikas Unterwerfung, Versklavung und Ausplünderung … begründete die Entstehung der modernen Welt.“ [18]
Auf der Straße eine Bettlerin mit ihrem Kind, viele bettelnde Kinder. Nach ein paar Minuten komme ich noch einmal an der Frau vorbei. Das Kind ist jetzt ganz in ein Speil vertieft. Einen Augenblick lächeln die Mutter und ich uns an, einen Augenblick entsteht eine Beziehung, obwohl wir doch in ganz anderen Welten leben. Welche Zukunft wird ihr Kind haben? „Rasch gehe ich weiter, in die andere Richtung jetzt.“ [21]
Ein europäischer Diplomat spricht von seiner Frustration. Nach der Kolonialzeit war Madagaskar ein Land mit mittlerem Einkommen. Jetzt sind alle Entwicklungsindikatoren negativ. Woran liegt das? Sind die Strukturen kolonial geblieben, nur dass die Herren jetzt Einheimische sind?
Im Süden Madagaskars gibt es die erste klimabedingte Hungerkatastrophe. Es herrscht ein extremer Wassermangel. Landwirtschaft ist nicht mehr möglich. Auf allen Gesichtern liegt der Staub, weil das Wasser nicht einmal reicht, den Durst zu stillen. Die Kinder spielen nicht mehr. Eine Schülerin schreibt an die Tafel kememoho „Ich habe Hunger“. Ich frage die Menschen, mit denen wir in der Dorfmitte sitzen, wem ein Kind vor Hunger gestorben ist. „In einem Dorf melden sich drei, in einem anderen Dorf fünfzehn, oder sie antworten, daß es spätestens in diesem Herbst geschehen wird, wenn ein weiteres Mal der Regen ausbleibt.“ [39]
In der Hauptstadt Antananarivo erlebe ich, dass allein in der Musik die Hoffnung liegt. Der Rhythmus mit Trommel, Bass und Rassel, dann die Gitarre und Laute und schließlich der Gesang – bald hat die Freude alle, die das erleben, erfasst. Die Menschen tanzen, als seien sie als Tänzer geboren.
„Weshalb sind die traditionellen Musiker die letzte Hoffnung für den Süden?, frage ich … deshalb: weil sie die Menschen zusammenführen, weil sie sie anstiften sich zu wehren. Weil sie mit ihrer Musik überall im Land und auf der Welt von der Not im Süden erzählen, aber nicht nur von der Not, sondern auch von der Schönheit der Menschen, dem Reichtum der Kultur und dem Boden, der eigentlich fruchtbar ist, wenn es nur endlich wieder regnete.“ [65]
Tansania
„Was bleibt, wenn der Mensch stirbt? Die meisten Kulturen lehren, daß der Geist fortlebt, und selbst wer nicht von Seele spricht, würde zugeben, daß jeder Verstorbene seinen Angehörigen etwas Immaterielles hinterläßt, Erinnerungen, Prägungen.“ [157]
Bei meiner Reise durch Ostafrika waren die Begegnungen mit den Toten besonders beeindruckend. Für die Menschen hier sind sie höchst lebendig. Der Leib eines Gestorbenen ist keine vergängliche Hülle, sondern bleibt verbunden mit dem Geist, der über den Tod hinaus besteht.
Das wird mir an einer Akazie im Norden Tansanias klar. Hier wurde Mangi Meli nach einem Aufstand gegen die deutsche Kolonialmacht erhängt. Sein Kopf wurde abgetrennt und nach Deutschland gebracht. Man wollte so forensisch nachweisen, dass die weiße Rasse überlegen ist. Insgesamt werden noch heute in Deutschland über zwanzigtausend abgetrennte Köpfe verwahrt werden.
Der Enkel von Mangi Meli will nur eines, dass der Schädel seines Großvaters zurückkehrt: „Solange der Leib nicht vollständig ist, finden weder er noch wir Frieden“ [159]. Westliche Institutionen erklären sich auch grundsätzlich dazu bereit, in der Realität gab es aber noch keine einzige Rückführung nach Tansania.
Dabei geht es den Nachfahren nicht um Geld. Die traditionelle Sühne wäre: 49 Rinder für einen Mord und die Kosten für die Beerdigung – Leihgebühren für Zelte und Stühle, eine Kuh für die Gäste und zehn Kisten Softdrinks. „Das wär’s? Ja, das wär’s, so schließen wir Frieden nach einer Untat, so will es unsere Tradition. … Was für ein Vorsprung an Zivilisation. [162.164]
Sudan
Ein Sudanese fragt: „Warum wurden wir vergessen, warum läßt die Welt seit vierzig Jahren das Morden zu?“ [245] Die Europäische Union hat im Rahmen des Khartum-Prozesses1Louise Sullivan, Khartum-Prozess, 2021, auf: https://migration-control.info/de/wiki/khartum-prozess/[9.3.2025]. Geld an die Milizen gegeben, die zuvor für den Völkermord in Darfur verantwortlich waren. So sollten Menschen an der Flucht nach Europa gehindert werden. Später gab es weitere Abkommen mit Diktaturen Nordafrikas, damit diese die Flüchtlinge abwehren. Gerade jetzt wird über ein Abkommen verhandelt, das die Menschen an der Flucht hindern soll, die aus dem Sudan vor den von Europa bezahlten Milizen fliehen.
selbst lesen: Navid Kermani, In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika, 2024.
1 Louise Sullivan, Khartum-Prozess, 2021, auf: https://migration-control.info/de/wiki/khartum-prozess/ [9.3.2025].