„Als Selma sagte, sie habe in der Nacht von einem Okapi geträumt, waren wir sicher, dass einer von uns sterben musste, und zwar innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden. Es waren neunundzwanzig Stunden. Der Tod trat etwas verspätet ein, und das buchstäblich: Er kam durch die Tür.“ [13]
Martin und ich fuhren jeden Tag mit dem Zug zur Schule, auch heute. Unterwegs hatten wir ein Spiel. Wir stellten uns an gegenüberliegende Zugtüren. Martin schloss die Augen und sagte, was hinter seinem Rücken draußen zu sehen war. „Drahtfabrik, Feld, Wiese, Gehöft, Weide, Hochsitz, Weide, Weide.“ „Und dann sprang die Zugtür auf.“ [100]
Zehn Jahre später arbeite ich bei Herrn Rödder in der Buchhandlung. Mein Hund Alaska, der eigentlich meinem Vater gehört, lag immer im Hinterzimmer. „Alaska war alt, viel älter als Hunde eigentlich werden können. Es schien, als habe er mehrere Leben, die er alle hintereinander weglebte, ohne zwischendurch zu sterben.“ [103]
Eines Tages war Alaska weggelaufen, vielleicht um meinen Vater zu suchen, vielleicht weil wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt waren.
Ich war mit meiner Lehre Im Buchladen beschäftigt. Selma mit ihrem Rheuma zu tun. Palm war mit seiner Religiösität beschäftigt, seit Martins Tod hatte er den Alkohol aufgegeben. Der Optiker hatte mit seiner heimlichen Liebe zu Selma zu tun, von der alle, außer Selma, wussten. Mein Vater hatte mit seinen Reisen zu tun; er ist immer auf Reisen, weil meint, dass man nur so wirklich wird. Meine Mutter hatte mit ihrem Blumenladen zu tun und mit dem Verhältnis zum Eiscafébesitzer Alberto. Elsbeth hatte mit ihrem Aberglauben zu tun und Marlies mit ihrer Depression, die sie nicht mehr aus dem Haus gehen lies.
Wir suchten Alaska bis zum Abend. Außer mir hatten alle schon aufgegeben, da standen plötzlich drei buddhistische Mönche vor mir. Der eine grüßte mit einem freundlichen Lächeln. „Mir wurde schwindlig, … weil ich … ahnte, dass er das ganze großflächige Leben in einer einzigen Bewegung umdrehen würde. Ich hatte immer geglaubt, dass man so etwas im Vorhinein nicht ahnen könnte, aber hier … merkte ich, man konnte es doch.“ [131.132]
Der Mönch hieß Frederik und lebte in Japan. Irgendwann wagte ich, ihn dort anzurufen. „‚Ich möchte, dass wir uns wiedersehen’, sagte ich.“ [150]
Vierzehn Tage später kam ein Brief und dann stand Frederick früher als angekündigt vor der Tür. Er blieb ein paar Tage und traf all die merkwürdigen Dorfbewohner. In der letzten Nacht sagte Frederik:
„‚Jetzt kann ich nicht mehr‘, sagte er, griff in meinen Nacken und zog mein Gesicht zu sich heran, ‚irgendwann muss mal Schluss sein‘, und dann fing es an. Frederick küsste mich, ich küsste Frederick, und zwar so, als seien wir genau dafür erfunden worden.“ [208].
Dann flog Frederick zurück nach Japan. In der Zeit danach schrieb er mir Briefe, in denen er sagte, der er und ich nicht zusammengehören, und ich schrieb ihm. Alle wurden älter. Ich hatte einen Freund, Andreas. Nach acht Jahren rief Frederick zu meinem Geburtstag an. Am nächsten Tag trennte ich mich von Andreas.
Einige Zeit später machte Selma sich auf zu sterben. Der Optiker las all die Liebesbriefe vor, die er nie vollendet und abgeschickt hatte. Dann ging er nach Hause und rief Frederick an. „‚Können Sie wohl vorbeikommen?‘ Der Optiker fragte das, als sei Frederick nicht am anderen der Welt, sondern im Nachbardorf. ‚Natürlich‘, sagte Frederick.“ [274]
Auch Marlies wollte sterben. Ich sah durchs Fenster, wie sie das Gewehr unter das Kinn geschoben hatte. Ich wollte sie abhalten, aber sagte, dass der Tod direkt auf sie zukäme. „Ich drehte mich um und sah, was Marlies sah: einen Mann in einem langen schwarzen Gewand, der durch den Garten ging, direkt auf uns zu. … ‚Das ist nicht der Tod‘, sagte ich, ‚das ist Frederick.‘“ [292] … und er fuhr nicht mehr zurück nach Japan sondern blieb.
selbst lesen: Mariana Leky, Was man von hier aus sehen kann. Roman, 2017; auch als Hörbuch, Hörspiel und Film.