„Was auf dem Spiel steht, ist die Idee einer neuen Anthropologie, nicht nur als Theorie, sondern auch als Existenzweise, die Entstehung und Entwicklung eines vitalen Bedürfnisses nach Freiheit, und von vitalen Bedürfnissen der Freiheit – und zwar einer Freiheit, die nicht mehr in Kargheit und der Notwendigkeit entfremdeter Arbeit begründet und begrenzt ist.”1Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie, in: Psychoanalyse und Politik. Kritische Studien zur Philosophie, 19684, 69-78, 73.
Als Marcuse 1967 diese Worte an der Freien Universität Berlin den Vertretern der Linken zurief, war er ein gefeierter Lehrer dieser Gruppe. Was alle gemeinsam anstrebten, war die Umgestaltung der bestehenden repressiven Gesellschaft in eine repressionsfreie. Dieser Gedanke war von einer Utopie zu einer Möglichkeit geworden. Was Marcuse von der Mehrzahl der neuen Linken unterschied, war, dass sein Ansatz ein philosophischer ist, und aus ihm nicht unmittelbar eine Handlungsanleitung abzuleiten ist.
Marcuses Weg begann in Berlin. Hier wurde er geboren. Hier begann er sein Studium. Hier arbeitete er zuerst. Marcuses Weg setzte sich in Freiburg fort. Hier beendete er sein Studium. Hier, bei Martin Heidegger, wollte er sich habilitieren. Hier legte er die Fundamente künftigen Denkens. Und Marcuses Weg war lange Zeit der Weg der Frankfurter Schule, hier wurde er Mitarbeiter an Max Horkheimers und Theodor Adornos Institut für Sozialforschung. Hier lebte sein Denken mit Philosophen, Soziologen, Ökonomen, Historikern und Psychologen. Hier wurde Edmund Husserls Phänomenologie von der kritischen Theorie aufgehoben.
Die Frankfurter Schule ist ein Modell neuen Denkens. Es ging hier nicht nur darum, die Gesellschaftstheorie von Karl Marx mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds zusammenzubringen. Es ging darum, die verschiedenen Richtungen neuen Denkens zusammenzufassen und zunächst die Gesellschaft mit einer kritischen Theorie zu analysieren. Dass jeder Denker die besonderen Erfahrungen seiner Wissenschaft einbrachte, ist die Stärke des Unternehmens.
Marcuses Gedanken reiften langsam. Äußere Umstände mögen daran schuld gewesen sein. Die Habilitationsarbeit über „Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit“ war lange Zeit Marcuses einzige größere Arbeit. Sie wurde 1932 fertig, schon ein Jahr später musste er über Genf und Paris nach New York auswandern.
In der folgenden Zeit stiller Forschung und politischer Tätigkeit trat Freud in den engeren Gesichtskreis von Marcuse; er gehört zu den ersten, die das Dreieck von Marxismus, Existenzialismus und Psychoanalyse konstruieren. Seine Gedanken werden vor allem in einzelnen Aufsätzen der „Zeitschrift für Sozialforschung“, die 1932 bis 1941 erscheint, öffentlich. Erst nach dem Krieg, er ist nun Amerikaner und wieder ausschließlich wissenschaftlich tätig, fasst er seine Gedanken in Buchform. 1958 legt er eine äußerst kritische Analyse des Stalinistischen Systems, „Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus“, vor. Andere Werke aus jener Zeit „Reason and Revolution“ und „Eros an Civilisation“ bleiben in der Aufmerksamkeit des Publikums weit hinter „Sovjet Marxism“ zurück.
Erst als Mitte der 1960er Jahre die Jugend rebellierte, weil sie die Überflussgesellschaft ablehnte, weil Kolonialkriege das politische Handeln bestimmten, weil sie ihr Leben selbst verwirklichen wollte und nicht im Zwang entfremdeter Arbeit stecken wollte, da wurde Marcuse mit einem Mal aktuell. Seine Bücher wurden erneut aufgelegt und übersetzt.
Wie kann es zu einer von Unterdrückung freien Gesellschaft kommen? Diese Frage, die Marcuse schön früh am Schreibtisch stellte, wurde nun mit einem Mal auf der Straße diskutiert. Auch wenn die Diskussion heute nicht mehr jene auch äußerliche Dynamik der Studenbewegung hat, sie ist nicht verstummt, denn die Frage hat noch keine praktische Antwort gefunden. Die philosophische Antwort Marcuses wurde weithin als pragmatische missverstanden, und als sie sich so verstanden als nicht praktikabel erwies, vergessen.
Der Begriff des Menschen, den Marcuse aus der Theorie Freuds übernimmt, ist zugleich Anklage und Verteidigung der westlichen Kultur. Die Kultur unterwirft die biologische und soziale Existenz des Menschen. Kulturgeschichte ist einerseits Geschichte der Unterdrückung. Die Kultur ermöglicht aber zugleich erst die Existenz des Menschen. Kulturgeschichte ist andererseits Geschichte des Fortschritts.
Darum hebt Marcuse zunächst auch die Schwierigkeit, eine neuen Kultur zu fordern hervor. Kultur heißt für ihn einmal Triebversagung. Eine Kultur ohne Unterdrückung zu fordern ist paradox. Hier stellt Marcuse nun die Frage, ob es nicht heißen könnte: Kultur ist bisher Triebversagung? Vielleicht gibt es eine Zukunft, in der die Kultur nicht auf Unterdrückung sondern auf lustvoller Befriedigung von Bedürfnissen beruht. Die mögliche Voraussetzung für die Verwirklichung dieser Idee sieht Marcuse im hoch entwickelten Stand der Technik. Er zweifelt nicht daran, dass die Technik die repressionsfreie Kultur ermöglichen kann. Darum geht es ihm in der Folge um die Frage, wie dieses Möglichkeit zur Wirklichkeit gedeihen soll. Die Veränderungen in den 1960er und frühen 1970er Jahren haben jedenfalls das scheinbar mögliche Ziel nicht erreicht.
Marcuse fordert die Erziehung eines neuen Menschen. Neue Kultur kann es nur mit neuen Menschen geben. Es genügt nicht, alte Machtverhältnisse unter den gesellschaftlichen Klassen neu zu verteilen, wie Marx es wollte. Die Entwicklung der modernen Industriegesellschaft erfordert geradezu einen neuen Menschen, will sie nicht in Barbarei verfallen. Aber sie ermöglicht den neuen Menschen auch erst. Der Versuch des Kommunismus, der ja auch den neuen Menschen vor Augen hat, ist gescheitert, weil er zu früh kam. Heute aber kann (vielleicht) der Versuch gelingen.Dass ein neuer Menschentyp möglich geworden ist, heißt nur, dass er eine minimale Chance hat, und nicht, dass sein Kommen in Bälde bevorsteht.
Was dem entgegensteht ist vor allen die gewohnheitsmäßige gegenwärtige Lebensform, die den Menschen zwar nicht glücklich macht, aber auch nicht so unzufrieden, dass er das Risiko der Veränderung tragen würde. Das ist bei Marcuse Ergebnis der soziologischen Analyse; und Aufgabe eben dieser Analyse ist es, dem Menschen seine Situation und seine Möglichkeiten vor Augen zu führen. Es geht darum, die beisherig Lebensform zu negieren, die Vorstellungen von Glück und Leistung. Erst wenn dies vollständig gelungen ist, werden sich neue Werte durchsetzen.
Dieser Gedanke ist keinesfalls neu. Von Platon über Augustinus bis hin zu Jean-Jacques Rousseau taucht er immer wieder auf. Dort ist auch gesagt, wie er verwirklicht werden könnte: durch eine erzieherische Diktatur. Dieses umstrittene Wort nimmt Marcuse auf. Er will damit eine Autorität bezeichnen, die die Erziehung der Kinder vom Vorschulalter bis zur Universität ausübt, Menschen, die sich dem Ziel der repressionsfreien Gesellschaft verpflichtet wissen.
Eine Verwirklichung seines Gedankens hält Marcuse zu seiner Zeit für unmöglich. Ihm geht es im Heute nur um die Negation des Bestehenden. Vorbild für diesen Protest ist der Künstler, der bereits im Reich der nicht entfremdeten, lustbetonten Arbeit lebt. Die Kunst hat damit in der bestehenden Kultur schon die neue Kultur geschaffen. Vielleicht liegt hier die Zielvision Marcuses: Alle Arbeit wird zum Spiel, zur Kunst.
Der Gedanke ist da. Der Plan einer neuen Gesellschaft besteht. Was fehlt, ist der Weg zu dieser Umgestaltung. Und was Marcuse auch immer wieder vorgeworfen wird, es fehlt an einer ausreichenden Analyse der bestehenden Gesellschaft. Was er beschreibt, sind allenfalls Tendenzen, die sich in keiner Weise bestätigen müssen. Gerade sein Ansatz bei der sich immer weiter entwickelnden Wachstumsgesellschaft dürfte heute fragwürdig geworden sein.
Wer heute Menschen fragt, die an diesem Wachstum kritisch mitarbeiten, erhält immer wieder zur Antwort: Wir müssen uns einschränken. Der neue Mensch wächst nicht aus immer weiterer wirtschaftlicher Entwicklung, sondern der neue Mensch muss gegen das Wachstum entstehen. Die Industriegesellschaft erfordert nicht den neuen Menschen, um sich weiterzuentwickeln, sondern der neue Mensch muss die Industriegesellschaft aufhalten. In Barbarei droht die Gesellschaft nicht zu verfallen, weil der modernen Technik die Menschen fehlen, sondern im Gegenteil, weil die moderne Technik sich vom Menschen abzulösen droht.
… dieser Text ist nicht mit KI geschrieben.