Bild Walter Womacka (1925 – 2010), Unser Leben (1964), Süd-West-Seite des umlaufendes Mosaiks am Haus der Lehrers in Berlin.
Ein Schiff ist unterwegs nach Narragonien. An Bord sind über einhundert Passagiere, Bauern und Handwerker, Gelehrte und Kleriker, irgendwie ganz normale Menschen, so wie Menschen oft sind: eitel, geizig, genusssüchtig, ignorant, habgierig, manche schlicht sittenlos. Es ist ein Schiff voller Narren, das nach Narragonien unterwegs ist, aber nie ankommt. Sebastian Brant hat diese Geschichte aufgeschrieben, die 1494 veröffentlicht wurde.
531 Jahre nach Brant hat Christoph Hein (* 1944) die Geschichte aktualisiert. Bei ihm ist das Schiff 45 Jahre zwischen 1945 und 1990 in der damalige Ostzone und späteren DDR unterwegs. Es soll auf den Kommunismus zusteuern. Die Narren an Bord haben aber von Anfang an Probleme, Richtung Ziel zu steuern, und kommen wie die Narren von Sebastian Brant nie an.
Christoph Hein gilt als „Chronist“ der DDR und Ostdeutschlands. Chronisten liefern Fakten, Daten und mehr oder weniger ausführliche Schilderungen von Ereignissen. Christoph Hein ist kein solcher Chronist, sondern er ist Schriftsteller.
Auch sein neustes Buch liefert keine Chronik der Ereignisse. Viele Elemente seines Buchs sind frei erfunden, auch wenn sich hinter den Figuren reale Personen entdecken lassen. So fügt sich sein Roman in den Rahmen der DDR-Geschichte, darf aber nicht als Geschichtsbuch missverstanden werden.1 siehe Ilko-Sascha Kowalczuk, https://www.facebook.com/ilkosascha.kowalczuk/posts/pfbid0aYvUvtUgceV93tffJZY1cPymJW5w5ZizsB7rARbLmgzCn66fM1S7bhaLWdqXfz4Vl [27.5.2025].
„Dem eingeschüchterten Mädchen gegenüber war er sehr wohlwollend und freundlich, so gütig, wie in den Schulbüchern über ihn zu lesen war.
Die Lehrerin hatte ihr gesagt, sie werde bei der Feierstunde neben dem Präsidenten sitzen, weil sie die beste Schülerin der beiden ersten Klassen sei.“ [11]
Der Präsident versuchte, mit Kathinka ins Gespräch zu kommen. „‚Ich will dir etwas verraten, was du keinem erzählen darfst. Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?‘
Das Mädchen nickte heftig.
‚Weißt du, ich war nie der beste in meiner Klasse. Da gab es immer ein paar Mädchen und Jungen, die viel besser waren als ich. Aber das darfst du keinem weiter erzählen. Versprochen?’
Die Kleine nickte. Sie starrte ihn an und fragte so leise, dass man sie kaum verstehen konnte: „Warum sind Sie dann der Präsident geworden und nicht der Klassenbeste?’“ [11.12]
Die Szene, in der Kathinka und Wilhelm Pieck nebeneinander sitzen, wird fotografiert und davon eine Postkarte gefertigt …
Karsten Emser kommt im Mai 1945 aus Moskau nach Deutschland. Deutschland soll nach der verheerenden Zeit des Nationalsozialismus ein anderes Land werden. Die Sowjetunion dient als Vorbild, der Sozialismus erscheint als Zukunftsmodell.
Viele Menschen, Rückkehrer aus dem Exil oder ehemalige Kommunisten, träumen von einem neuen Deutschland, glauben an die Ideale des Sozialismus und müssen sehr bald sehen, wie diese Ideale untergraben werden. Früh zeigen sich Widersprüche. Da ist der Umgang mit „Klassenfeinden“ und das Misstrauen gegenüber den eigenen Genossen. Schließlich wird der Volksaufstand am 17. Juni 1953 zu einer Zäsur.
Drei Jahre nach dem Tod von Josef Stalin hält Nikita Chruschtschow 1956 vor ausgewählten Delegierten des Parteitags der KPdSU eine „Geheimrede“, in der er den staatlichen Terror der vorangegangenen Jahrzehnte benennt.
Auch Karsten Emser ist verunsichert, erinnert sich an die Zeit des gnadenlosen Terrors in Moskau und erzählt endlich einmal auch seiner Frau davon: „Ach, weißt du, es ist immer noch dunkel und unbegreiflich für mich. Was für eine Zeit! Eine Zeit, die Narren aus uns allen machte. … Und wo ich heute stehe … das weiß ich nicht. Weiß ich nicht mehr. Vielleicht auf dem Deck eines Narrenschiffs …“ [335.336]
Im gleichen Jahr wird der Aufstand in Ungarn niedergeschlagen. Auch die SED ist von Unsicherheit und Angst durchzogen. Karsten Emser und sein Weggefährte Johannes Goretzka geraten in parteiinterne Intrigen. Die Schere zwischen öffentlicher Rhetorik und interner Realität wird immer größer. Die Machtausübung wird autoritärer, das System starrer. Der Überwachungsapparat wächst. Johannes Goretzka erst Nazi, dann in sowjetischer Kriegsgefangenschaft zum Kommunisten bekehrt, ist ein ehrgeiziger Opportunist, der dennoch im Machtapparat der DDR scheitert.
Viele Menschen verlassen das Land gen Westen. Die Ausreisebewegung droht, den Staat zu destabilisieren. Dagegen wird die Mauer gebaut und als „antifaschistischer Schutzwall“ propagiert. Es ist der Moment, in dem sich das Land endgültig nach innen abschottet. Die SED ist von Lügen und Selbsttäuschungen geprägt. Im Land wächst die Resignation. Die Funktionäre versuchen, das System zu erhalten, während sie selbst immer weniger daran glauben. Die Generation der Parteigründer wird alt, ideenlos und verliert immer mehr den Bezug zur Realität.
So ist die Friedliche Revolution 1989 nicht Triumph, sondern logischer Endpunkt eines langen, selbstverschuldeten Niedergangs.
All das beobachtet Kathinka. Sie erlebt die inneren Widersprüche der Ideologie, das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit, die Friedliche Revolution und das Ende der DDR.
„Unvermutet, gerät ihr eine Postkarte in die Hand, die der staatliche Postkartenverlag Bild und Heimat vor Jahrzehnten gedruckt hatte und auf der ein dicker, alter Mann, neben einem kleinen Mädchen in einer Schulreihe saß.
Kathinka erinnerte sich und lächelte versonnen. Die Karte musste nun 40 Jahre alt sein. Sie drückte einen Kuss auf das Foto, dann zerriss sie die Postkarte in kleine Schnipsel und warf diese in den Papierkorb.“ [751]
1 siehe Ilko-Sascha Kowalczuk, https://www.facebook.com/ilkosascha.kowalczuk/posts/pfbid0aYvUvtUgceV93tffJZY1cPymJW5w5ZizsB7rARbLmgzCn66fM1S7bhaLWdqXfz4Vl [27.5.2025].
selbst lesen: Christoph Hein, Das Narrenschiff, 2025.