Das Werk von Gaito Gasdanow (1903 – 1971) gehört zu den ungewöhnlichsten Stimmen der russischen Emigrantenliteratur. Geboren in Sankt Petersburg und aufgewachsen in Sibirien sowie der Ukraine, schloss er sich als Jugendlicher den Weißgardisten im Bürgerkrieg an und gelangte 1923 ins Exil nach Paris. Dort lebte er unter prekären Bedingungen und arbeitete als Nachtfahrer für ein Pariser Taxiunternehmen.
Sein literarischer Durchbruch gelang 1929 mit dem Roman „Der Abend bei Claire“, der mit psychologischer Feinheit Erinnerungen, Traum und Realität verschränkt. In den folgenden Jahrzehnten schuf Gasdanow ein Werk, das zwischen existenzialistischer Stimmung, metaphysischem Rätsel und kriminalistischer Spannung oszilliert.
Gasdanow blieb bis zu seinem Tod 1971 im Exil. Sein Werk wurde erst spät in Russland wiederentdeckt, gilt heute aber als eines der originellsten der russischen Moderne. Es ist geprägt von traumartigen Erzählsituationen, scharfer Beobachtungsgabe und einer existenziellen Grundmelancholie.
„Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe.“ [7]
Es war im Sommer. Ich war Soldat im russischen Bürgerkrieg und hatte meine Einheit verloren. Ich ritt allein auf einem sich schlängelnden Weg. Plötzlich stürzte mein Pferd von einer Kugel getroffen mit mir zu Boden. Ein Reiter kam auf mich zu und zielte mit seinem Gewehr auf mich. Ich hatte nur eine Pistole. Ich schoss und traf ihn tödlich.
Viele Jahre später in Paris bekam ich den Erzählungsband eines Schriftsteller namens Alexander Wolf in die Hände. Eine Erzählung erschütterte mich. Darin war präzise mein Erlebnis von damals erzählt, jedoch aus der Perspektive des erschossenen Reiters. Das konnte nur bedeuten, der Mann, den ich tötete, hat überlebt …
Bei einer Reise nach London lernte ich die elegante Jelena Nikolajewna kennen. Zwischen uns entwickelte sich eine leidenschaftliche Beziehung. Es stellte sich heraus, dass sie Alexander Wolf gut kennt. Er war für sie sowohl ein kultivierter als auch ein düsterer und gefährlichere Mensch. Je mehr ich über ihn erfuhr, desto stärker wuchs das Gefühl, einer unheimlichen Verknüpfung unserer Schicksale ausgeliefert zu sein, als ob wir seit dem Krieg untrennbar verbunden wären.
Schließlich traf ich Alexander Wolf persönlich. Die Begegnung war ruhig, aber voller Spannung. Wolf bestätigte, dass er damals tatsächlich der Reiter war, der von mir angeschossen wurde, und dass dieses Erlebnis auch ihn lebenslang geprägt hat.
Für mich wurde zugleich immer mehr deutlich, dass Alexander Wolf ein gefährlicher, innerlich zerrissener und zugleich faszinierender Mensch ist. Immer mehr erschien er mit als Bedrohung. Als Jelena Nikolajewna zu einer Verabredung mit mir nicht kam, fuhr ich voller Unruhe zu ihr und betrat ihre Wohnung.
Ich sah „Jelena Nikolajewna, die am Fenster stand, und ihr halb zugewandt die Silhouette eines Mannes, der ebenso wie ich eine Pistole hielt. Ohne den Arm zu heben, fast, fast ohne zu zielen …. schon ich auf ihn zweimal hintereinander.Er dreht sich um sich selbst., dann reckte er sich und sackte schwer zu Boden …
Vom grauen Teppich, der den Boden dieses Zimmers bedeckte, schauten auf mich deuteten Augen des Alexander Wolf.“ [176.177]
Gaito Gasdonow zeichnet nach, wie ein einzelnes traumatisches Ereignis ein ganzes Leben bestimmen kann. Der namenlose Erzähler wird von der Schuld und der Unsicherheit verfolgt, ob er im Bürgerkrieg einen Menschen getötet hat. Alexander Wolf erscheint als eine Art Spiegelbild des Erzählers. In ihm nimmt das verdrängte Trauma unerwartet Gestalt an und bestimmt mit einem Mal die Gegenwart. So zeigt sich, dass Vergangenheit nie wirklich abgeschlossen ist. Es drängen sich existenzielle Fragen auf: Wer bin ich? Ist mein Leben Zufall oder Schicksal? Liebe, Gewalt und Identität überlagern sich und machen deutlich, wie instabil die Grenzen zwischen Opfer und Täter, Zufall und Notwendigkeit sind. Das Phantom verbindet so das Unbewusste, das prägende Trauma mit einem realen Menschen.
selbst lesen: Gaito Gasdanow, Das Phantom des Alexander Wolf. Roman, 2014.
