„Wunderlich war der unglücklichste Mensch, den er kannte. Er kannte zwar nicht viele Menschen, doch was spielt das für eine Rolle, wenn das Unglück größer ist als man selbst. Wobei das eigentlich nicht stimmte, denn Wunderlichs Unglück war etwa einen Kopf kleiner als er und hieß Marie.“ [5]
Marie hatte Wunderlich verlassen. Dafür bekam er jetzt auf seinem Telefon wunderliche Textnachtrichten von Anonym. Anonym wusste genau über ihn und die Menschen um ihn herum Bescheid und konnte sogar in die Zukunft sehen. Statt Marie begleitete fortan Anonym Wunderlich.
Wunderlich beschloß in seiner Trauer um Marie, nach Norden zu fahren. Er packte ein paar Sachen, kaufte eine Fahrkarte und stieg in den nächsten Zug. Sehr weit kam er nicht, denn weil sein Ausweis, den er zur Fahrkarte benötigte, abgelaufen war, setzte ihn eine gehässige Schaffnerin an einem gottverlassenen Bahnhof aus dem Zug.
Am Bahnhof traf er Finke, der in einer stillgelegten Gastwirtschaft hauste und gerne mal ein Bier mehr trank. Finkes Maxime war: „Ein großer Teil der Sorgen besteht aus unbegründeter Furcht.“ [49] Finke nahm ihn mit ins nächste Dorf.
Hier begegnete auf Toni, einer junge Frau, die mit dem Moped unterwegs war und im Bauwagen lebte, und dem schönen Ringo, dem Wirt, der guten oder starken Schnaps servierte. Wunderlich nahm den starken.
Hier traf er mit dem Kopf den Wasserhahn, verletzte sich beim Baden im See, wurde von der Dorfjugend zusammengeschlagen und trug noch weitere Verletzungen davon. Er lernte Blauharz kennen, das alle Verletzungen heilt, aber auch alle Erinnerungen daran auslöscht. Wunderlich wollte sich erinnern, auch wenn es wehtat.
Wunderlich setzte seine Reise nach Norden fort, verletzte sich wieder, traf wieder auf Menschen, die ihm nahe kommen, und Menschen, die etwas verloren haben, beispielsweise ein Telefon. Wunderlich blätterte es durch und stellte fest: „ Ein ganzes Leben in so einem kleinen Ding, und jetzt ist es der Frau abhanden gekommen …“ [226]
Endlich kam er an im Norden, am Meer. Aber er fühlte sich dort leer und schon nächsten Tag fuhr er zurück zu Toni, zu Finke, zum schönen Ringo. Aber alle waren nicht mehr da und niemand konnte sich mehr an sie erinnern. Nur in Finkes Quartier war es noch wie zuvor, bis auf dieses blaue Bild mit Mond und Fisch und grünem Pferd.
Wunderlich fuhr wieder nach Hause. Auf seiner Reise hatte er entdeckt, was er vergessen wollte und gefunden, was er nicht gesucht hatte. „Wunderlich war der verwirrteste Mensch, den er kannte. Er kannte zwar nicht viele Menschen, doch was spielt das für eine Rolle, wenn das Wirrwarr größer ist als man selbst.“ [285]
selbst lesen: Marion Brasch, Wunderlich fährt nach Norden, 2015.