Stalinallee der Dörfer

Neue Orte für neue Menschen

Im Februar 1952 legte Otto Grotewohl den Grundstein für den Bau der Stalinallee. Aber nicht nur in der Hauptstadt sollte sich die neue Zeit durchsetzen, sondern auch auf dem Land. Dem neuen Menschen wollte man auch neue Orte schaffen, um den Gegensatz zwischen Stadt und Land anzunähern und schließlich aufzuheben.

Dafür sollten Zentraldörfer als Mittelpunkt für das Leben der werktätigen ländlichen Bevölkerung entstehen. Vorgaben legten fest, dass im Dorfzentrum ist ein Platz zu schaffen ist, auf dem Versammlungen der Dorf Bevölkerung stattfinden. Um den Platz gruppieren sich dann die Gemeinschaftsbauten, Zentralschule, Kulturhaus, Kino, Bibliothek, Jugend- und Pionierheim, Landambulatorium, Kindergarten, Sportanlage sowie ein Dorfwirtschaftshaus. Die Silhouette des Dorfes sollte nicht mehr durch die Kirche geprägt werden sondern durch sozialistische Bauten.

Insgesamt waren 487 Zentraldörfer geplant. Innerhalb von wenigen Monaten reduzierte sich diese Zahl auf 224, dann auf 182 und schließlich auf drei Musterdörfer. Während in Berlin eine Regierungskommission, die endgültige Fassung der „Richtlinien für die Standortwahl, Errichtung und Gestaltung von Beispieldörfern in der DDR“ beschloss, schrieben die Genossen in Schwerin bereits in die Hauptstadt: „Wir teilen Ihnen hierdurch mit, dass wir das Dorf Mestlin als Muster für ein Beispieldorf entwickeln.“

Musterdorf Mestlin

Am 8. Mai 1952 wurde in Mestlin feierlich der Grundstein für die Neubauten des Musterdorfes gelegt, und zwar für das Herzstück, das Kulturhaus. Wohnungen wären nötiger gewesen, aber das Kulturhaus war politisch wichtiger. Drei Maurer schritten dem Demonstrationszug, der zum künftigen Bauplatz führte, voran. Ein Mandolinen-Orchester spielte auf, und die DEFA war aus Berlin gekommen und filmte das Geschehen.

Damit war das Fundament des sozialistischen Musterdorfs markiert. Es war nur die falsche Stelle. Das wirkliche Kulturhaus wurde an anderer Stelle errichtet. Als es zwei Jahre später mit dem Bau  begonnen wurde, musste die Urkundenrolle wieder hervorgeholt und umgebettet werden.

Aber das war nur das kleinste Problem. Eine Baugenehmigung lag nur für ein Wohnhaus vor. Geld, für den ersten Bauabschnitt waren 3,9 Millionen Mark notwendig, war nicht vorhanden. Woher die insgesamt notwendigen 8,25 Millionen Mark kommen sollten war noch völlig unklar. Aber die Regierung musste sich dem politischen Erwartungsdruck beugen. Alle anderen Beispieldörfer wurden gestrichen. Bis 1952 sollte das Musterdorf stehen. Aber es dauerte dann aber doch sieben Jahre länger. 

Nach und nach entstanden eine Vorschuleinrichtung mit Kinderkrippe und der Kindergarten, das Landambulatorium, die Schule und später die Turnhalle. Es wurden Gebäude für die Gemeindeverwaltung mit Post und Sparkasse, ein Haus für die Gaststätte und den Industriewarenladen der Handelsorganisation (HO) und ein Versorgungsgebäude des Konsum mit Läden für Lebensmittel und Textilwaren. In den Obergeschossen waren Wohnungen, über der Gaststätte Fremdenzimmer.

Weitere Pläne wurden aber nicht mehr ausgeführt: Internat, Veterinärstation, Berufsschule und eine weltliche Begräbnisstätte. Wichtiger war es, für die Lebenden zu sorgen, die Wohnungen brauchten. Die wurden auch gebaut, auch wenn sie zunächst lange Zeit im Ackerlehm standen, der sich bei Regen in kaum passierbaren Schlamm verwandelte.

Aber, wenn sich die neue Zeit schon nicht an ordentlichen Straßen und Gehwegen ablesen ließ, so war sie doch durch die Verleihung geschichtsträchtiger Namen zu erkennen. Der zentrale Platz wurde, in Anlehnung an das Berliner Vorbild, zum Marx-Engels-Platz. Während aber der Platz in Berlin längst einen anderen Namen hat, hält in Mestlin der Marx-Engels-Platz immer noch die Erinnerung wach.

Das Kulturhaus

Als zentrales Gebäude war das Kulturhaus vorgesehen, das durch seine aufwändige architektonische Gestaltung die übrigen Gebäude optisch dominieren sollte. Überall im Lande entstanden damals Kulturhäuser als Konkurrenz zu den bisher Ortsbild prägenden Kirchen. Um den neuen Menschen zu formen, sollten dort Orte höherer Bildung sein. So hoffte man die Menschen zur Einsicht in die gesellschaftlichen Gesetze zu führen, dass der Kapitalismus durch eine sozialistisch-kommunistische Gesellschaft abgelöst wird. Die Kulturhäuser sollte die entscheidende Hebebühnen dafür sein.

In Mestlin klemmte aber der Bau dieser Hebebühne. Am 8. Mai 1952 war feierlich der Grundstein für das Kulturhaus gelegt worden. Lange passierte wenig. Nur das Schild war zu sehen, welches die baldige Errichtung des Hauses versprach. 

45 Architekten legten ihre Entwürfe für das Kulturhaus vor, angenommen wurde keiner. Es dauerte zwei Jahre bis es einen durch die Regierung akzeptierten Entwurf gab. Die veranschlagten Kosten von 1,25 Millionen Mark hatte sich auf 3,5 Millionen erhöht. Am 19. Oktober 1957 konnte das Haus endlich eingeweiht werden. Allerdings war erst das Erdgeschoss fertiggestellt. Die Baustelle auf der oberen Etage wurde durch Grünpflanzen kaschiert.

Manche Räume wurden im Laufe der Jahre umgewidmet. Aus dem Stimmzimmer für die Musiker wurde die Waffenkammer der Kampfgruppe. Die Waffen, so hieß es offiziell, waren gelagert, zum Schutz von unerwarteten Bedrohungen und Gefahren. Aber das half nicht, vier Jahre nach der Eröffnung, kam während einer Parteiversammlung eine Decke herunter. Es gab einige leichter Verletzte. Das Kulturhaus wurde zunächst gesperrt und die Mestliner fanden ihren Humor schnell wieder: „Die haben nur wieder gelogen, dass sich die Balken bogen.“ In Wirklichkeit war aber ein Baumangel die Ursache.

Aber mit der Fertigstellung konnte das Haus endlich genutzt werden. Kabarett, Foto-, Schach-, Koch-, Volkstanzgruppen und Handarbeitszirkel wurden gebildet. Ein Chor, ein Fanfarenzug, Jagdhornbläser, Gitarren- und Akkordeonzirkel prägten das musikalische Bild. Hier gastierten Theater und Musikgruppen. Hier vollzogen sich Namensweihen, Jugendweihen und Eheschließungen. Hier wurde unter der Losung „Die DDR – Der Repräsentant der friedliebenden deutschen Nation“ getanzt. Es gab Theater und Konzerte. Neben Saal und Bühne beherbergte das Kulturhaus eine Klubgaststätte, Weinstube, Standesamt, Versammlungsräume, Zentralbibliothek und ein Kino. Jährlich mehr als 50.000 Menschen aus Mestlin und Umgebung kamen ins Kulturhaus. 

Dann kam die friedliche Revolution. Erneut machte man in Mestlin große Pläne. Schwimmhalle und Wellness-Center, Supermarkt und Gewerbepark sollten entstehen, ein Hotel gebaut werden. Da kamen zwei Investoren gerade recht. Sie versprachen viel und machten das Kulturhaus zum Discopalast. 1996 fand diese Nutzung ein Ende. Übrig blieb ein demoliertes Kulturhaus, leer geräumt bis auf das, was niemand mehr gebrauchen konnte, verschimmelte Türen, Ratten und ein kaputtes Dach.

Heute kümmert sich der Verein Denkmal Kultur Mestlin e.V. um das Haus. 2017 konnten die Einwohner erstmals seit dem Verfall dort wieder feiern. Das Kulturhaus war offen mit Bühne, Saal, Weinstube, Gasheizung, Strom und neuen Toiletten. Im gleichen Jahr gab es eine besondere Würdigung, die Auszeichnung mit dem Deutschen Preis für Denkmalschutz.


Literatur: Friedemann Schreiter, Musterdorf Mestlin. Vom Klostergut zur „Stalinallee der Dörfer“, 2017.


 

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