Das Liebespaar des Jahrhunderts

„Im Grunde ist es ganz einfach: Ich verlasse dich.
Drei Wörter, die jeder Mensch begreift. Es genügen drei Wörter und alles ist getan. Man muss sie nur aussprechen. Ich bin erstaunt, dass es so einfach ist. Und noch etwas erstaunt mich: Der Satz ist genauso kurz wie der, den ich am Anfang unserer Geschichte gesagt habe.
Am Anfang habe ich gesagt: Ich liebe dich.“ [7]

Ich erinnere mich an die Zeit unseres Zusammenseins. Als du in den Semesterferien vor meiner Tür standest und am nächsten Tag noch da warst, auch noch am Ende des Sommers und nach drei Sommern. Schließlich wurden es einunddreißig Sommer.

Die Liebe ist anfangs ein Wunder. Später erwog ich, ob unsere gemeinsame Erfahrung der Diktatur uns zusammenbrachte. „Man erkennt immer zu spät, wie die Dinge wirklich liegen.“ [25]

Ich ging zum Studium nach Südfrankreich. Du gingst nach Paris. Ich besuchte dich dort und du besuchtest mich. Die Zukunft lag vor uns, die Herkunft spielte keine Rolle. In Südfrankreich gingen wir zu einem Rave. Du gerietst in einen Streit und landetest im Krankenhaus. „Bislang waren wir nur verbunden gewesen durch die Liebe, jetzt waren wir es auch auf tragische Weise. In meinen Augen eine neue Stufe des Glücks.“ [39].

Dann studierten wir wieder in Deutschland, wohnten aber weiter in zwei Wohnungen. Hin und wieder ging ich zu Trinkgelagen mit deinen Freunden. Es war in, die Liebe als etwas Vergängliches zu betrachten. Für uns ist das anders, sagtes du.Später habe ich solche Äußerungen als Täuschung gedeutet. „Damals beruhigte mich deine Haltung … Ich vermute, so ganz konnte ich es immer noch nicht fassen, dass ich dich getroffen hatte. Du und ich – das Liebespaar des Jahrhunderts!“ [49.50]

Aber vielleicht waren wir gar kein Traumpaar.

Als wir das Studium beendet hatten, strebtest du eine feste Stelle an. Ich wollte mehr Zeit mit dir als mit der Arbeit verbringen. Dann fing ich an zu schreiben – für dich. Aber ich war nicht sicher, ob dir das gefiel und ob ich es noch für dich tun wollte. Irgendwann war da der Gedanke, dich zu verlassen. Wir waren immer öfter allein unterwegs. Du nahmst eine Stelle in Russland an, erst in Kaliningrad, dann fuhrst du nach Sibirien.

„Wäre die Welt in diesem Moment von einem Atomkrieg ausgelöscht worden, hätte ich es hingenommen. Warum sollte es die Welt noch geben, wenn es uns nicht mehr gab?
(So müssen sich Diktatoren fühlen, die sich aus Einsamkeit und auf der Flucht vor der Gewissheit, ein Nichts zu sein, dafür entscheiden, das Nachbarland zu überfallen.)“ [76]

Wir zogen in eine gemeinsame Wohnung. Wir bekamen ein Kind. Wenn ich jetzt verreiste, dachte ich an das Kind, nicht an dich. „Von hier ab könnte ich genauso gut schreiben, der Mann tat dies, die Frau tat jenes.“ [89] 

Es kam ein zweites Kind. Die Kinder und die Hausarbeit ließen wenig andere Gedanken zu. Ich hatte den Eindruck, ich hatte vergessen, dich zu verlassen. Dann wurde der Gedanke mir vertraut. „Der Entschluss, mich von dir zu trennen, ließ mich aufleben. Fröhlich und beschwingt war ich, als hätte ich es bereits getan.“ [103]

Ich war nur noch Zuschauerin deines Lebens. Deine Affären bemerkte ich, die Einzelheiten interessierten mich nicht. Dann wurde ich krank, unendlich müde und ständig musste ich weinen. Die Krankheit ersetzte unsere Liebe. Über das Verlassen dachte ich weniger nach. Aus den Kinderzimmern wurden Jugendzimmer. Die kleinen Kinder hatten im selben Zimmer geschlafen. Jetzt waren sie lieber allein. „Jeder von uns wollte mit den Jahren lieber für sich allein sein.“ [135]

Als eine Frau mir sagte, wir hätten denselben Vater, war das für dich tote Materie der Vergangenheit. Wir wussten es beide: In der Vergangenheit ist kein Gold zu finden. Jeder lebte in seiner Blase. Unsere Beziehung stagnierte wie die Welt draußen. „Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist die Aussicht nur noch ein Szenario verschiedener Katastrophen.“ [160] Es ist unrealistisch zu glauben, dass der Mensch die Gesellschaft besser machen könnte. 

Als du nach Hause kamst, sagte ich: „Ich habe Schmorgurken für uns gekocht.
… Eigentlich wollte ich sagen: Ich verlasse dich. Stattdessen sprach ich weiter.
Ich liebe dich, sagte ich.“ [189]

„Es ist so: Ich muss mich aufraffen, über uns zu schreiben, darf nicht mehr zögern. Erst wenn alles festgehalten ist, existieren wir, das heißt: alles. Die Liebe und deren Verwandlung, die Leidenschaft, die Erstarrung und der Jubel, unsere Einsamkeit und unsere Zugewandtheit.
Also ungefähr das, nehme ich an, was man ein erfülltes Leben nennt.“ [191]


selbst lesen: Julia Schoch, Das Liebespaar des Jahrhunderts. Roman, 2023.

mehr von Julia Schoch: Das Vorkommnis, 2022.


 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.