Alle meine Geister

Uwe Timm (* 1940)  schreibt Prosa, Lyrik, Essays, Hörspiele und Drehbücher. Nach der Volksschule lernte er den Beruf des Kürschners und übernahm 1958 das Geschäft seines Vaters. Ab 1961 besucht er das Braunschweig-Kolleg, wo er Benno Ohnesorg kennenlernte. Anschließend studierte Timm Philosophie und Germanistik. Er war von 1967 bis 1969 im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), von 1973 bis 1981 Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Seinen Austritt erklärte er wegen der unkritischen Haltung der Partei gegenüber der DDR.

Timm ist Spezialist für autobiographische Bücher, die von den Rändern aus operieren, um langsam zum Zentrum vorzudringen. In „Alle meine Geister“ geht es um seine Zeit in der Kürschnerlehre, um die Atmosphäre jener Jahre, um Spießigkeit, Verschweigen der Schuld und die wirtschaftlichen Zwänge vieler, um das Kleine, das Enge, das die Bundesrepublik war. Es geht aber auch um inspirierende Begegnungen mit Menschen und mit Büchern.


„Das Kind beobachtet das Rotkelchen auf dem Ast. Der Kind wartet. Die kleine Vogel sitzt und fliegt nicht. Auch die anderen Vögel, die Bussarde, Sperber, die beiden Kanarienvögel, sitzen auf ihren Ästen und fliegen trotz ausgebreiteter Schwingen nicht auf. Das Kind wartet. Die Tiere sind wie im Märchen erstarrt. Das mächtige Buch, in mattrotes Leinen gebunden, mit einer geprägten Goldzeichnung: Ein bärtiger Riese steht unter einer Tanne. Auf den Papierseiten glänzt und blitzt es. Diamanten, sagt der Vater, aus der Schatztruhe von König Drosselbart. Grimms Märchen.“ [7]

Es war Krieg. Nach dem Krieg kehrten wir in das zerstörte Hamburg zurück. „Die Mutter und der Vater lesen Geschichten aus Tausendundeine Nacht.“ [8]

1955 begann ich eine Lehre als Kürschner. In der Schule hatte ich Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung. Ich sollte nicht als Gymnasiast scheitern und zudem das Geschäft meines Vaters übernehmen.

Die Felle erinnerten nur noch wenig an das Tier, von dem sie stammten. Sie wurden in Streifen geschnitten und nach genauer Berechnung wieder zusammengenäht. Sie zu verarbeiten, war eine Kunst. Die Lehrlinge wurden jeweils für ein paar Monate einem Meister oder einem versierten Gesellen zugeteilt. Jeder von ihnen war anders. Einer erzählte fortwährend vom Krieg und seinen Liebschaften. Einer brachte einen Plattenspieler mit in die Werkstatt und legte Jazz-Platten auf. Einer war Sozialist und hatte noch August Bebel sprechen gehört.

Für das Sortieren der Persianerstücke gab es einen abgelegenen Raum. Dieses Arbeit war unbeliebt aber für mich hatte das Sortierzimmer den Vorteil, dass ich dort lesen konnte. Wenn jemand kam, konnte ich das Buch schnell unter die Felle schieben.

Die Arbeit erforderte präzise Berechnungen, genaues Arbeiten und jahrelange Erfahrung. Vorbereitet wurde die Arbeit durch das Sortieren nach Haardichte, Lockenform, Farbe und Glanz. „Das war die Zeit des Erzählens, von dem Walter Benjamin … sagt: Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben … Die Erzählung, wie sie im Kreis des Handwerkers … gedeiht, ist selbst eine gleichsam handwerkliche Form der Mitteilung.“ [41] 

Den Sozialisten Walther Kruse besuchte ich von Zeit zu Zeit in seinem Schrebergarten. Er erzählte von 1933. „Wie hatte es dazu kommen können, dass Genossen so bereitwillig zu den Nazis übergelaufen waren?“ [52] Es war die Aussicht auf Vorteile und Übersichtlichkeit. So lernte ich von ihm einen kritischen Blick auf die Gesellschaft und deutsche Geschichte.

1958 starb mein Vater. Er hinterließ das Geschäft nahe dem Konkurs. Ich übernahm das Geschäft. Zum Lesen war kaum noch Zeit. Aber nach anderthalb Jahren waren die Schulde fast abgetragen.

Da hörte ich einen Bericht über das Braunschweig-Kolleg, wo man das Abitur nachholen konnte. Ich bewarb mich und wurde aufgenommen.


Uwe Timms Buch ist auch Literatur über Literatur. Sein Lesestoff und seine Erfahrungen damit durchziehen das Buch: Ronald Amundsen, Eroberung des Südpols (1910-1912) [33.24], Ernest Hemingway, The Old Man and the Sea (1952) 30.31], Jerome Salinger, Der Mann im Roggen (1951) [31-34], Richard Sennett, Handwerk (2007) [36.37], Walter Benjamin, Der Erzähler (1936) [41.42], Dante Alighieri, Die göttliche Komödie (1307-1321) [43], Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795.1796) [43], Nikolai Gogol, Der Mantel (1842) [44], Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Schuld und Sühne (1866); Der Spieler (1867); Die Dämonen (1872); Die Brüder Karamosow (1880); Der Idiot (1869) [44-54. 165], Eugen Kogon, Der SS-Staat (1946) [59-61], Gottfried Benn, Gesammelte Gedichte (1956) [73-79], Arthur Schopenhauer, Über die Freiheit des menschlichen Willens (1836); Über die Grundlage der Moral (1841) [85-87], Rainer Maria Rilke, Herbsttag (1902) [93.94], Franz Kafka, Die Verwandlung (1912) [94-101], Erich Maria Remarque, Arc de Triomphe (1945) [103], Brehms Tierleben (1863-1893) [108-111], Alexander von Humboldt, Ansichten der Natur (1808) [111-113], Eduard Möricke, Abreise (1846) [119], Thomas Mann, Buddenbrooks (1901) [155], William Faulkner, Schall und Wahn (1929) [155-156], Alexander Puschkin, Der Schuss (1831) [163-164], Lew Tolstoi, Anna Karenina (1878); Krieg und Frieden (1869) [170-177], Homer, Odyssee (8./7. Jahrhundert vor Christus) [179-180], Konstantin Kavafis, Ithaka (1911) [179], Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883-1885) [187.188], Per Olov enquist, Die Ausgelieferten (1968) [207], Akzene 1 (1961)Henry Miller, Wendekreis des Krebses (1934) [211-215], Helmut Heißenbüttel, Textbuch 1 (1960); Akzene 1 (1961) [235-238], Bertold Brecht, Gedichte [240], Albert Camus, Der Fremde (1942) [242], Anaïs Nin, Ein Spion im Haus der Liebe (1954) [258-261], Ingeborg Bachmann, Anrufung des Großen Bären (1956) [265-266], Thomas Mann, Doktor Faustus (1947) [266-272], Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos (1942) [273]


 

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