Es fing so harmlos an

„Ein D-Zug fährt hier, wie Sie seh’n so schnell er fahren kann.
Das ist so weit ganz gut und schön. Es fängt ganz harmlos an.
Der Zug, der fährt ins Märchenland und was dort geschieht
ein Lustspieldichter kühn erfand, ihr ahnt nicht, was Euch blüht.“

So sang Johannes Heesters (1903 – 2011) in dem 1944 gedrehten Film „Es fing so harmlos an“. Ein Zug fährt dampfend über die Leinwand und verschwindet in einem Tunnel.

Für die 350 Kinobesucher in Pritzwalk begann am 15. April 1945 auch alles ganz harmlos. Während drinnen der Zug ins Märchenland unterwegs ist, steht im nahen Bahnhof ein Zug in der realen Welt des Kriegs, voll beladen mit Munition.

Auf der Leinwand sind Johannes Hesters und Theo Lingen zu sehen, die als Diplomaten im Auftrag ihres Ministers eine Mappe mit Geheimpapieren wiederbeschaffen sollen. Die hatte der Minister bei einem amourösen Abenteuer in einem Hotelzimmer vergessen. Die Mappe findet sich zunächst nicht, denn der eine Emissionär interessiert sich mehr für eine junge Dame und der andere wird von einer Frau traktierte, als er gerade die Mappe entdeckt hat. Schließlich findet sich …

Wie es das märchenhafte Lustspiel endet, erfahren die Kinobesucher an diesem Tag nicht mehr. Die reale Welt des Kriegs bricht in die Traumwelt des Films ein. Der Munitionszug ist nach Beschuss durch ein Flugzeug explodiert. Hunderte Menschen sterben. Große Teile der Stadt liegen in Schutt und Asche.

Auch an der 800 Meter entfernten St. Nikolai-Kirche entstehen Schäden. Das Südfenster wird zerstört. Die Öffnung bald danach zugemauert.

79 Jahre später fällt nun wieder an der Stelle Licht in die Kirche, wo 1945 das Fenster zerstört wurde.

Das neue Fenster hat ein Außen und ein Innen, ein Unten und ein Oben. Außen sind Strukturen zu erkennen und Farben zu erahnen. Das Außen lädt ein, nach innen zu gehen und das vom Sonnenlicht durchstrahlte Fenster zu besehen. Unten ist das Fenster rot und schwarz  und es wird nach oben hin immer heller und grüner.  Aus der Dunkelheit und dem Blutrot  wächst ein grüner und heller Baum.

Verbunden mit dem Fenster ist ein Wort aus dem biblischen Buch des Hiob:

„Denn ein Baum hat Hoffnung,
auch wenn er abgehauen ist;
er kann wieder ausschlagen,
und seine Schösslinge bleiben nicht aus.
Ob seine Wurzel in der Erde alt wird
und sein Stumpf im Staub erstirbt,
so grünt er doch wieder vom Geruch des Wassers
und treibt Zweige wie eine junge Pflanze.“
[Hiob 14,7-9]

Aus dem Dunkel des Krieges wächst ein grüner Baum der Hoffnung auf Frieden. Aus der Zerstörung ist etwas Neues entstanden. Die Darstellung der Zerstörung ist dabei nur zu sehen, wenn man direkt vor dem Fenster steht, sonst versperrt die Empore diesen Teil des Fensterbildes. Die Künstlerin Dana Meyer hat es bewusst so gestaltet. Das Grün der Hoffnung soll alles überstrahlen.

Das neue Fenster der St. Nikolai-Kirche sendet diese Botschaft an die Menschen, die sie künftig betreten. Was aber ist mit denen, die am 15. April 1945 starben, und mit all den Menschen, die in Kriegen sterben? Auch Hiob fragt sich das nüchtern:

„Stirbt aber ein Mann, so ist er dahin;
kommt ein Mensch um – wo ist er?
Wie Wasser ausläuft aus dem See,
und wie ein Strom versiegt und vertrocknet,
so ist ein Mensch, wenn er sich niederlegt,
er wird nicht wieder aufstehen;
er wird nicht aufwachen,
solange der Himmel bleibt,
noch von seinem Schlaf erweckt werden.“
[Hiob 14,10-12]

Das neue Südfenster der St. Nikolai-Kirche Pritzwalk blendet den Schrecken nicht aus, aber er ist erst zu sehen, wenn man genauer hinschaut. Aber oft sitzt der Mensch lieber im Kino und begibt sich in eine Märchenwelt. Die Welt draußen ist ihm viel zu schrecklich. Besser alles fängt harmlos an und hat ein Happy End. Wer aber im Kinosessel verharrt, ahnt nicht, was ihm blüht.

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