Kurt Tucholsky (1890 – 1935) studierte Jura und schloss das Studium 1915 mit der Promotion zum Doctor iuris ab. Während er in seiner Doktorarbeit1 die Kritik auf einen einzelnen Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches beschränkte, war er in seinem literarischen Schaffen mit mehr 2.500 Texten, ein bissiger Kritiker des bürgerlichen Lebens insgesamt. Dabei verstand er sich selbst als linker Demokrat.
Das Kommende bereits absehend, zog Tucholsky 1929 nach Schweden. In Deutschland wurde unterdessen der Weltbühne-Prozess geführt, nach 1933 auch seine Bücher verbrannt.
Mit klarem, realistischem Blick stellte Tucholsky fest, dass sich das deutsche Volk mehrheitlich mit der Diktatur Hitlers abfand und sich anpasste. Seine Verzweiflung zu sehen, wie auch das Ausland die Machtstellung des Nazis anerkannte, war groß und zugleich wusste er, dass ein Weltkrieg seine bedrohlichen Schatten vorauswarf.
Am 21. Dezember vor 87 Jahren starb er.
Kurt Tucholsky (1890 – 1935)
Das Ideal
Gedicht zum 21. Dezember
Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße:
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn –
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.
Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:
Neun Zimmer, – nein, doch lieber zehn!
Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn,
Radio, Zentralheizung, Vakuum,
eine Dienerschaft, gut gezogen und stumm,
eine süße Frau voller Rasse und Verve –
(und eine fürs Wochenend, zur Reserve) -,
eine Bibliothek und drumherum
Einsamkeit und Hummelgesumm.
Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste,
acht Autos, Motorrad – alles lenkste
natürlich selber – das wär ja gelacht!
Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.
Ja, und das hab ich ganz vergessen:
Prima Küche – erstes Essen –
alte Weine aus schönem Pokal –
und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.
Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.
Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.
Ja, das möchste!
Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheints so, als sei es beschieden
nur pöapö, das irdische Glück.
Immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;
hast du die Frau, dann fehln dir Moneten –
hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer:
bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.
Etwas ist immer.
Tröste dich
Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Dass einer alles hat:
das ist selten.
1 Kurt Tucholsky, die Vorbemerkung aus § 1179 BGB. und ihre Wirkungen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Großherzoglich und Herzoglich Sächsischen Gesamt-Universistät Jena, 1915, https://collections.thulb.uni-jena.de/receive/HisBest_cbu_00023314 [20.12.2022].
Bild Sonja Thomassen: Kurt Tucholsky und Lisa Matthias im schwedischen Läggesta, 1929.