Wer sich Quedlinburg von Westen nähert, trifft zuerst auf einen Berg, der schon in der Jungsteinzeit besiedelt war. Ein Poet unserer Tage lässt einen der damaligen Bewohner zu Wort kommen:
„Von diesem Berg habe ich geduckt
unter Büschen nach meinem Feind geguckt,
und stieg er hinauf, hab’ ich mit Geheule
ihn niedergemacht mit meiner Keule.“1
So gefährlich, wie es der Dichter den Menschen vor 7.000 Jahren zuschreibt, ist es für den Fremden schon lange nicht mehr. Schon am Ende des 10. Jahrhunderts verschwanden viele Büsche und machten einem Benediktinerinnenkloster Platz. An Stelle von „Geheule mit der Keule“ trat für gut 500 Jahre „ora et labora“.
In der Reformationszeit wurde es still auf dem Berg. Das Kloster wurde aufgegeben, die Gebäude verfielen, die Reste dienten als Baumaterial.
Ende des 16. Jahrhunderts zog wieder neues Leben in die Ruinen ein. Arme Handwerker, niederes Volk, Menschen außerhalb der ständischen Hierarchie errichteten kleine Häuschen. Den Stadtbewohnern galten sie als Gesindel. Wurde ein Kind geboren, hielten die Väter sie zum Fenster hinaus: „Alles was de siehst is denne, derfst dich nur net fade lasse!“ Alles was du siehst ist deins, darfst dich nur nicht erwischen lassen! Die Münzenberger hatten ihren eigene Jargon, ein spezielles Rotwelsch, eine fremdartige, anderen Menschen unverständliche Sprache.
Auch ob aus einem Münzenberger Kind ein Dieb oder ein Musikant wurde, entschied sich kurz nach der Geburt. Den Neugeborenen wurde eine Trompete und eine Münze hingehalten. Griff das Kind nach der Trompete, so sollte es Musikant, beim Griff nach der Münze Dieb werden. Während aber über die Diebe wenig bekannt ist, brachten es die Münzenberger Musikanten zur einer gewissen Prominenz.
Jubiläums-Gutschein zur 1000-Jahr-Feier der Stadt Quedlinburg 1922
Wer sich Quedlinburg von Westen nähert, trifft heute auf dem Münzenberg weder auf kampfbereite Steinzeitmenschen, noch auf Benediktinerinnen, noch auf Diebe oder Musikanten. Die alten, vielfach umgebauten und neu genutzten Mauern, die nach Bränden und Verfall immer wieder neu errichteten Häuser sind heute zu einem begehrten Stadtquartier in der 1.100-jährigen Stadt geworden.
Die Spuren der Geschichte sind an vielen Stellen noch unmittelbar zu erkennen. Die Reste der ehemaligen Klosterkirche sind in den Kellern, der dort errichteten Häuser zu besichtigen. Die Klosterküche ist als Ferienhaus zu mieten. Jedes der 62 Häuser verbindet auf seine Weise Vergangenheit und Gegenwart.
Der Poet drückt es so aus:
„Heut’ geht es uns besser, heut’ sind wir geachtet,
und mancher erstaunt unsere Häuser betrachtet …
Wir leben hier oben frei, luftig und schön
und können den Harz und den Brocken sehn.“2
Münzenberg im Jahr 2022 | Bild: Wolkenkratzer | www.wikipedia.org
1⇧ Eckhardt Sehmsdorf, Die historische Münzenberg Modenschau, in: Meine Quedlinburger Bühnenstücke, 2010, 207-220, 210.
2⇧ aaO 218.