Der Wintergarten

Hilde wird 1902 geboren. Fast hundert Jahre später, im Jahr 2001, stirbt sie. Ein Jahrhundert mit Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, DDR-Sozialismus und Friedlicher Revolution liegt hinter ihr. Ihr Leben und das Leben ihrer Familie ist ein Spiegel dieses bewegten Jahrhunderts.

Hildes Vater Emil ist ein Kind vom Lande, geboren 1871, aufgewachsen in Seifhennersdorf. Sein Vater ist dort Gemüsebauer. Er löst sich von seiner Herkunft, wird Volksschullehrer, studiert dann noch in Leipzig, wird an das angesehene Gymnasium in Meißen berufen, dort bald Oberlehrer und schließlich Professor. So gehört er zu den zehn Prozent der bestbezahlten Beamten Deutschlands.

Hildes Mutter Hedwig, geboren 1872, ist Tochter eines Fabrikanten. Emil kennt sie schon seit der Grundschule und ist seit ihrer Konfirmation in sie verliebt. Aber erst als er sein Lehrerzeugnis in der Hand hat, offenbart er ihr seine Gefühle. Noch acht Jahre vergehen, bis sie 1900 heiraten.

„Jetzt nimmt Emils und Hedwigs Leben Fahrt auf. Es ist, als ob das junge Ehepaar die lange Wartezeit möglichst schnell ungeschehen machen möchte. Wenig mehr als ein Jahr nach dem Vollzug der Ehe wird im Juni 1901 Hanna geboren. Anderthalb Jahre darauf erblickt im November 1902 eine zweite Tochter, Hilde, das Licht der Welt.“ [43]

Mit sechs kommt Hilde in die Volksschule, nach vier Jahren auf die höhere Mädchenschule, die sie 1917 mit vierzehn Jahren verlässt. Im gleichen Jahr wird sie konfirmiert. Sie „landet … im Niemandsland zwischen Klassenzimmer und ehelicher Wohnung.“ [66] Sie widmet sich ihrer Aussteuer und erledigt schludrig ihre Aufgaben im Haushalt. Am liebsten nimmt sie ihre Malsachen und fertigt Skizzen und Tuschezeichnungen ihrer Heimat oder bei Reisen. Als sie zwanzig ist, wird sie in ein Töchterheim geschickt, wo sie zur „pflichtgetreuen und christlichen Hausfrau“ erzogen werden soll. Das Malen gibt sie auf.

Im Sommer ist Hilde viel mit der Fahrrad unterwegs. Auf einer Tour nach Moritzburg hat sie einen Unfall. Ein junger Mann kümmert sich um sie. So lernt sie 1928 Hellmuth kennen. Knapp zwei Jahre später heiraten die beiden. Hellmuth ist Mitinhaber einer Holzfabrik und so können sie es sich leisten, in Meißen eine große, für die damalige Zeit moderne Wohnung zu beziehen. Zwei Kinder werden geboren, 1933 Brigitte und 1938 Gottfried.

Aber bald geht es der Holzfabrik wirtschaftlich schlechter. Grund ist auch der aufwändige Lebensstil von Hellmuth. 1938 muss er seinen Firmenanteil verkaufen. Die junge Familie hat keine eigenen Einkünfte mehr. Da kommt es vielleicht sogar recht, dass Hellmuth noch vor Kriegsbeginn Soldat wird. Nach einer Erkrankung kehrt er 1941 aus dem Krieg ins Zivilleben zurück und muss auf einem Fliegerhorst in Erfurt als Buchhalter arbeiten. Schließlich wird er zum Volkssturm eingezogen.

Weil Hilde ihre Tochter im September 1944 nicht hatte an einer Propagandaveranstaltung teilnehmen lässt, wird ihr Brigitte vom Regime weggenommen und in ein lagerähnliches Kinderheim bei Dresden gebracht. Der Ort bleibt beim Bombardement der Stadt im Februar 1945 verschont und Hilde holt ihre Tochter im anschließenden Chaos wieder nach Hause. 

Nach Kriegsende ist Hilde mit ihren beiden Kinder zunächst auf sich allein gestellt. Erst im Herbst 1945 kehrt ihr Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Es folgt eine schwere Zeit. Als die Tochter Brigitte 1948 konfirmiert wird ist es das „wertvollste Konfirmationsgeschenk“, dass „das Mädchen von ihrem Vater – einen eingelegten Hering“ [210] bekommt.

Als 1947 das Parlament der Freien Deutschen Jugend in Meißen tagt, haben Hilde und Hellmuth einen der Teilnehmer bei sich zu Gast. Sie „werden bis zu ihrem Tod dabei bleiben, dass … Erich Honecker … übernachtet habe.“ [212]

Hellmuth wird Neulehrer. Ein bescheidener Neuanfang ist möglich. „Hilde und Hellmuth entwickeln eine Sparsamkeit, die das genaue Gegenteil der Leichtigkeit ist, mit der sie in den Dreißigerjahren Geld für ein Auto oder eine Alpenreise ausgaben.“ [255] 

Auch Brigitte wird Lehrerin, verliebt sich, wird schwanger, Brigitte und Hellmuth sind ungehalten. Das Paar heiratet im Februar 1954 ohne jede Feier. Schließlich akzeptieren sie die Beziehung. Als Brigitte und ihr Mann ein Grundstück erwerben und darauf ein Sommerhaus errichten, verbringen sie sogar einen Teil des Sommers bei ihrer Tochter.

Hildes Vater stirbt schon 1946. Als ihre Mutter 1953 pflegebedürftig wird, ziehen Hilde und Hellmuth in ihrer Wohnung mit ihr zusammen. Hilde wohnt nun wieder in dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist.

Seit Mitte der Sechzigerjahre ändert sich etwas. Die materiellen Lebensbedingungen bessern sich allmählich, und es entwickelt sich ein neues Lebensgefühl.“ [283] Das Reisen wird wieder ein Thema und Hilde und Hellmuth gehen 1963 als Erste aus der Familie auf eine Reise. Es geht ins Zittauer Gebirge. Dort lernen sie ein Ehepaar aus Budapest kennen und eine Freundschaft mit gegenseitigen Besuchen entsteht.

Als Hellmuth 1982 stirbt, bleibt Hilde als einziges Familienmitglied ihrer Generation übrig. Die Veränderungen am Ende der DDR berühren sie nicht mehr. „Ihr fehlt Hellmuth, aber sie ist glücklich, dass Gottfried weiterhin zu Hause wohnen bleibt.“ [330]

Die friedliche Revolution ändert für sie wenig. „Im Prinzip ist ihre Wohnung in den selben Zustand wie zu der Zeit, als Emil und Hedwig dort einzogen. Die meisten Möbel stehen da, das Plumsklo wurde nie modernisiert, und auch der Badeofen tut noch Dienst, als ob die Zeit ein Jahrhundert ausgelassen hätte.“ [346] Das neue Jahrhundert ist ein Jahr alt, als Hilde stirbt.


selbst lesen: Jan Konst, Der Wintergarten. Eine deutsche Familie im langen 20. Jahrhundert, 2019.


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