Peter Wensierski (*1954) wuchs in Heiligenhaus im Regierungsbezirk Düsseldorf auf, legte das Abitur in Kettwig, heute ein Teil von Essen, ab und studierte Publizistik, Politik und Geschichte in Berlin. Von 1979 bis 1985 war er Korrespondent in der DDR, dann wurde er mit einem Arbeits- und Einreiseverbot belegt. Ab 1986 war Wensierski Redakteur bei dem ARD-Magazin Kontraste. 1993 wechselte er zur Deutschlandredaktion des Spiegel.
Peter Wensierski neustes Buch erzählt die Geschichte von Matthias Dommaschk und der Jenaer alternativen Jugendkultur. Es ist eine erzählte Erinnerung an das Leben junger Menschen in der DDR, die auf der Suche nach sich selbst und einer lebenswerteren Gesellschaft waren und dabei in die Fänge des autoritären Staates kamen.
„Herbst 1976. Matz sitzt an der Felskante des alten Steinbruchs. Sein Blick geht weit über die Stadt. Von hier aus kann er alles sehen, die Ruine der Lobdeburg direkt gegenüber, daneben die Hochhäuser von Neulobeda, wo seine Eltern wohnen – er aber nicht mehr. Gleich dahinter Drackendorf, wo Goethe eine Geliebte hatte und Matz eine Schülerband.
Unten im Tal, am Fußweg nach Jena, die Teufelslöcher, wo er vor Jahren mit einem wildfremden Mädchen in der Höhle Schutz fand, als ein Platzregen niederging. Die Kreuzung an der Landstraße, von der aus sie lostrampten, zu Freunden in Leipzig, Zeitz oder Apolda, zu Blueskonzerten nach Wandersleben, nach Polen … Hauptsache weit weg.
Zu seinen Füßen die Berufsschule in Göschwitz, auf der er im nächsten Jahr sein Abitur machen wird, um dann studieren zu können. Hier und da funkelt die Saale auf ihrem Weg zwischen Wiesen und Auen im Volkspark Paradies.“ [9]
Freitag, 10. April 1981
In der MfS-Kreisdienststelle Jena wird ein Plan entworfen, wie verhindert werden kann, dass „relevante“ Personen nicht nach Berlin gelangen, wo der X. Parteitag der SED stattfindet. Man befürchtet Störungen.
Matthias Domaschk, den alle Matz nennen, geht in Jena zum Saalbahnhof, kauft sich eine Fahrkarte und steigt in den Zug. Er will zu einer Fete nach Berlin. In Jüterbog wird der Zug angehalten. Uniformierte kommen in den Zug.
„Sind Sie Herr Rösch?
Ja!
Da brauchen Sie sich nicht mehr ausweisen, Jacke anziehen und mitkommen!
Und Sie? Domaschk? Matthias?
Ja!
… Kommen Sie jetzt mit raus!“ [74]
Blase, Peter Rösch, und Matz werden aus dem Zug geholt, mit Handschellen gefesselt und mit noch zwei Frauen abgeführt und zum Stützpunkt der Transportpolizei gebracht. Es folgt eine erste Befragung. Dann warten. Bald ist Mitternacht. Warten.
Samstag, 11. April 1981
Weit nach Mitternacht, erneute Vernehmung. Wieder warten, schlafen ist nicht erlaubt, noch eine Vernehmung, an Schlaf ist kaum zu denken, auch als sie für einige Zeit in eine Zelle gebracht werden.
Am Nachmittag werden sie ins Volkspolizeiamt Jüterbog gebracht. Weiter zermürbendes Warten, nichts passiert. Endlich am Abend müssen Sie in einem grauen Barkas steigen. Stundenlang fahren sie auf der holprigen Autobahn. In der MfS-Untersuchungshaftanstalt Gera endet die Fahrt.
Matz und Blase werden in zwei Zellen gesperrt. Kurz vor Mitternacht erfolgt der „Erstangriff“ auf Matz, ein Verhör auf die harte Tour. Nach drei Stunden wird er für dreißig Minuten in die Zelle gebracht.
Sonntag, 12. April 1981
Dann geht die Befragung weiter. Der Vernehmer schlägt mal versöhnliche, mal aggressive Töne an:
„Wir können uns auch anders unterhalten, aber ich weiß nicht, ob Sie das wollen! Wir erwarten von Ihnen, daß sie keine weiteren strafbaren Handlungen unternehmen. Es geht doch nicht nur um Sie. Mit dem, was Sie tun, schaden sie doch gleichzeitig Ihrer ganzen Familie! Wenn Ihr Vater nicht mehr im Ausland arbeiten kann oder seinen Leitungsposten verliert, dann tragen sie dafür allein die Verantwortung … Wissen Sie, wir können jederzeit die Beweise liefern für Ihre Straftaten, unsere Beweiskraft ist erheblich, wir sind nach Erlassen und Gesetzen unserer Regierung dazu befugt. Wollen Sie wirklich ihre Eltern erst auf dem Friedhof wiedersehen, nach zehn Jahren Haft? Sie haben doch gerade gesehen, wie es in einer Gefängniszelle ist …
Andere Variante, die Hand reichen: Sie sind doch sehr vernünftig. Entscheiden Sie sich, welche Schlussfolgerungen für ihren künftigen Weg die richtigen sind. Unser Staat hat kein Interesse, die Dinge eskalieren zu lassen. Wir erkennen an, wenn sie sich korrigieren wollen. Sie sind doch ein logisch denkender Mensch.“ [249]
Um 10.00 Uhr wird Matz noch immer vernommen, schlafen durfte er nicht. Schließlich unterschreibt er ein 15-seitiges Protokoll. Seine Aussagen würden für eine langjährige Verurteilung reichen, aber das MfS will ihn als IM. Um 12.45 Uhr unterschreibt Matz eine Verpflichtungserklärung:
„Hiermit verpflichte ich mich, das MfS im Kampf gegen die Feinde der DDR aktiv und ohne jeden Vorbehalt zu unterstützen. Ich werde die mir in der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS bekannt gewordenen Fakten, Tatsachen und Hintergründe gegenüber jeder dritten Person strengstens geheim halten. Ich wurde darüber belehrt, daß eine Verletzung dieser Verpflichtung mit strafrechtlichen Mitteln geahndet werden kann. Für die konspirative Zusammenarbeit mit dem MfS wähle ich mir den Decknamen ‚Peter Paul‘.“ [280]
Matz wird ins Besucherzimmer gebracht. Dort ist er ohne Überwachung. Er soll nach Jena gebracht werden. Als die vergitterte Tür geschlossen wird, ist es 13.45 Uhr. Als sie um 14.00 Uhr wieder geöffnet wird, ist Matz tot. Er hat sich an einem Heizungsrohr erhängt.
Nachwort
„Schon in den ersten Wochen, als die Wohngemeinschaft Gartenstraße entstand, legte … die Volkspolizei … eine Akte ‚Wohnung‘ an. Darin heißt es, dort brauche sich wohl eine staatsfeindliche Gruppe zusammen. Diese Jugendlichen hätten nicht nur einen eigenen Begriff von Freiheit, sondern wollten den selben auch verwirklichen. Was im kleinen die Mentalität in Jena war, sind das nicht auch die Denkmuster der des KGB-Offiziers und Stasi-Ausweis-Inhabers Putin, der den Freiheits- und Selbstbestimmungsdrang der Ukraine auslöschen will?“ [357]
selbst lesen: Peter Wensierski, Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Dommaschk, 2023.