Revolution in Freyenstein

Der 18. März war ein warmer Frühlingstag. Am Mittag zogen viele, viele Menschen zum Platz vor dem Schloss. Sie feierten die Einführung demokratischer Rechte und die Ankündigung, dass es eine Verfassung geben sollte. Zwei Monate später, am 18. Mai, war die Stadt festlich geschmückt. Salutschüsse ertönten. Die Bürger bildeten ein Spalier. Über zweitausend Menschen drängten sich in der Kirche.

Diese beiden Ereignisse im Jahr 1848 geschahen fernab von Freyenstein in Berlin und in Frankfurt. 

In Berlin hatte der König das „Gesetz über die Presse“ verkündet, das die Zensur abschaffen sollte. Zugleich verlangte er eine zukünftige „Bundespräsentation eine constitutionelle Verfassung aller deutscher Länder“. Als dann Militär auf dem Schlossplatz erschien und schoss, kam es zu Barrikadenkämpfen. Es starben auf der einen Seite 270 Bürger und auf der anderen 200 Soldaten.

Am nächsten Tag verneigte sich der König vor den Toten, befahl den Abzug des Militärs und setzte sich scheinbar an die Spitze der Freiheitsbewegung.

In Frankfurt kam die erste Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche zusammen. Sie beschloss als „Grundrechte des deutschen Volkes“ Freiheits- und Eigentumsrechte, jedoch kein Anrecht auf soziale Sicherung. Es wurde auch eine Gleichheitsgrundsatz formuliert, der das Ende von Standesrechten und Adel bedeutet hätte. Schließlich versuchte die Nationalversammlung eine staatliche Einigung. 

Die Revolution spielte sich aber nicht nur in Berlin und Frankfurt ab. Ihre Wirkung entfaltete sie überall in Stadt und Land. Auch in Freyenstein wehte die schwarz-rot-goldene Fahne, das Symbol für Freiheit und Einheit, durch die Stadt. Getragen wurde sie von der siebenjährigen Minna Schelle. Sie zog „Freiheitslieder singend und eine Fahne schwingend durch die Straßen, der ganze Troß der Dorfjugend hinter ihr her“1.

Wilhelmine (Minna) Theodora Marie Schelle, wurde als Tochter des Pfarrers Alexander Schelle und seiner Frau Juliane, geborene Wolfschmidt, am 1. November 1841 in Freyenstein geboren. Als Kind genoss Minna eine große Freiheit. Sie wuchs in einfachen, aber nicht ärmlichen Verhältnissen auf, die von einer tiefen Religiosität geprägt waren. Auch der Vater soll vom revolutionären Geist erfasst worden sein, was den Kirchenoberen gar nicht passte. Von ihm hat Minna wohl ihre später immer stärker zutage tretenden die liberalen und zutiefst demokratischen Überzeugungen geerbt.

Minna besuchte die Höhere Töchterschulen in Frankfurt an der Oder und in Perleberg. Sie war eine hervorragende Schülerin und wollte Lehrerin werden. Kurz bevor sie ihr Lehrerinnenexamen ablegen wollte, starb ihr Bruder. Dieser Schicksalsschlag bewog sie, in den Schoß der Familie zurückzukehren und ihr berufliches Streben zu beenden. Mit 21 Jahren heiratete sie den jungen Arzt der Familie, August Latzel, der aber schon 1866 starb.

Jetzt legte sie 1867 doch noch ihr Lehrerinnenexamen ab und fuhr nach Paris, wo sie eine Stelle als Hauslehrerin in einer reichen protestantischen Familie annahm, bevor sie 1869 auf Einladung von Eduard Cauer, einem bekannter Pädagogen und Schulreformer, wieder nach Deutschland zurückkehrte um im westfälischen Hamm an der Mädchenschule zu unterrichten, an der Eduard Cauer Direktor war. Minna und Eduard heirateten noch im selben Jahr. 

Eine glückliche Zeit als Ehefrau und Stiefmutter begann. Minna Cauer konnte in regem Austausch mit ihrem Mann intensiv eigene Studien und Lektüren betreiben. Zwischen 1871, dem Jahr der Reichsgründung, und 1875 lebte die Familie in Danzig. 1876 zog sie nach Berlin, da Eduard Cauer dort Schulrat wurde.

In Berlin lernten die Cauers viele liberale Politiker kennen, das Kronprinzenpaar Friedrich und Viktoria von Preußen, die große Hoffnung der Liberalen, und Vertreterinnen der Frauenbewegung. Minna Cauer füllte ihre Rolle als Lebensgefährtin und geistige Partnerin eines liberalen Reformers offenbar mit Freude aus – von den üblichen Vereinen, Wohltätigkeitskomitees oder anderen bürgerlichen Assoziationen der Frauen hielt sie sich fern. 

1881, nach zwölf Jahren Ehe, wurde Minna Cauer ein zweites Mal Witwe und sah sich erneut vor die Aufgabe gestellt, ihr Leben allein zu gestalten. Vierzig Jahre alt, entschied sie sich, nach Danzig zurückzugehen und dort mit Forschungen zur Geschichte von Frauen zu beginnen. 

In dieser Zeit erkannte sie, „wie niedrig die Stellung der Frau war, wie sklavenhaft, wie rechtlos, wie unwürdig“2. Auch ihre eigene gesellschaftliche Position als Witwe bestätigte sie in dieser Einschätzung, ebenso die Lektüre wichtiger zeitgenößischer Schriften zur Lage der Frauen, beispielsweise August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ (1879).

Als Minna Cauer 1888 zurück nach Berlin ging, um dort als Lehrerin in einem Mädchenpensionat zu arbeiten, und begann ihr zweites Leben als aktive und einflußreiche Frauenrechtlerin … 

1918 erlebt sie als 77-jährige noch die Revolution. Siebzig Jahre zuvor war sie mit der Fahne durch Freyenstein gelaufen. Jetzt erfüllt sich ihr Lebensziel: „Abdankung des Kaisers, Ausbruch der Revolution. … Traum meiner Jugend, Erfüllung im Alter! Ich sterbe als Republikanerin! Eine Erschütterung geht durch die Welt, wie sie nie gewesen … Es liegt ein gewaltiger Plan der Vorsehung darin. Wir verstehen ihn noch nicht, ahnend nur kann man ihn erfaßen. Wer in dieser Zeit kleinlich ist, war es immer und wird es ewig bleiben.“3 Die erhielten Frauen das Wahlrecht, 1919 gingen sie das erste Mal zur Wahlurne.

Nach der Revolution folgte auch die Enttäuschung. Die junge Republik hat es schwer. Große Hoffnungen setzte sie auf Walther Rathenau. Nach seiner Ermordung am 24. Juni 1922 war ihre Lebenskraft gebrochen. Sie starb nur wenig später: am 2. August 1922.


1 Else Lüders, Minna Cauer. Leben und Werk. Dargestellt an Hand ihrer Tagebücher und nachgelassenen Schriften, 1925, 4.

2 Minna Cauer, Aus meinem Leben, in: Das freie Volk. Demokratisches Wochenblatt, 18.12.1909, zitiert nach Else Lüders, aaO, 49 [aus einer unvollendeten Autobiografie 1905].

3 ebd, 223 [9.11.1918].


 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.