Das glückliche Geheimnis

„Es gibt dunkle Geheimnisse, und es gibt glückliche Geheimnisse. Mein glückliches Geheimnis bestand fünfundzwanzig Jahre lang darin, dass ich in Wien ausgedehnte Streifzüge machte und die an den Straßen stehenden, für Altpapier vorgesehenen Behältnisse erkundete auf der Suche nach für mich Interessantem.“ [9]

Unsere Gesellschaft ist ein Wegwerfbetrieb und aus dem Strom des Weggeworfenen zog ich ein Stück heraus. Müll ist nicht nur Material, das wieder verwertet werden kann. Müll enthält auch das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft.

Im Altpapier fand ich weggeworfene Bücher, aussortierte Briefe, Tagebücher, die nicht mehr gelesen werden sollten, Briefmarkensammlungen, wertvolle Grafiken. Das eine brachte ich ins Auktionshaus, das andere verkaufte ich auf dem Flohmarkt. Das brachte mir Geld ein und irrsinnig viel Lektüre und was ich schrieb, schrieb ich auf gefundenes Papier.

Ich suchte nach einem Platz im Leben, wagte es aber nicht, mich „Schriftsteller“ zu nennen. Erst als die „Kleine Schule des Karussellfahrens“ erschien, galt ich als einer. Ich nahm ein Stipendium in Berlin an, kehrte zurück nach Wolfurt, meiner Heimatstadt, arbeitete auf der Seebühne in Bregenz. Auf einer Geburtstagsfeier lernte ich K. kennen, meine Frau. Mein zweiter Roman „Irrlichterloh“ erschien, er gefiel weder der Kritik noch mir.

K. und ich zogen wieder nach Wien. Der Verlag hielt mich mit bei meinem nächste Buch hin. Ich ging wieder auf den Flohmarkt, suchte wieder im Altpapier. Das war meine Karriere. „Das Wort Karriere bezeichnete ursprünglich eine Straße für Karren.“ [56] Die Straße, auf der ich mit meinem Fahrrad von Papierbehälter zu Papierbehälter fuhr, war meine Karriere.

Endlich erschien „Schöne Freude“. Der Applaus verhallte wieder schnell, die Verkäufe stagnierten. Ich setzte alles auf eine Karte. „Ich schrieb Es geht uns gut, etwas ganz anderes als das, was ich bisher gemacht hatte, … einen Familienroman mit integriertem Anti-Familienroman.“ [72] Meine wöchentlichen Runden zum Altpapier machte ich weiter. Mein Leben war weiter wirr.

Dann erschien mein vierter Roman. Er bekam den Deutschen Buchpreis. Für mich begann ein neues Leben, aber die Runden gab ich nicht auf. Ich führte ein Doppelleben als Lumpensammler und öffentliche Person mit Ansehen. Aber ohne die Texte, die ich im Altpapier fand, hätte ich meine Bücher anders geschrieben.

Die meisten Autoren vertrauen auf Logik in ihren Büchern. „Der Wille zur Logik ist der Literatur ist nichts anderes als ein Vorurteil gegen das Leben. In den vielen Brief- und Tagebuchkonvoluten ist mir nie ein logischer Mensch untergekommen, erst recht kein logischer Lebenslauf“ [130].

Der Erfolg brachte es mit sich, dass bei den Runden lange Pausen entstanden. Mir wurde immer deutlicher bewusst, wie ungewöhnlich meine Streifzüge waren. Sollte ich von meinem Geheimnis erzählen? Immer weiter zog ich umher. Der Inhalt der Tonnen änderte sich: kaum noch Handschriftliches, weniger Liebesromane, mehr Kriminalromane, ein Bild für die Gesellschaft, die rauer wurde.

Schließlich beendete ich meine Touren. „Ich bin jetzt am Grund. Es ist alles geborgen. Rasch weiter!“ [237]


selbst lesen: Arno Geiger, Das glückliche Geheimnis, 2023.


 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.